Njomza Gutaj findet deutliche Worte an die Adresse der bisherigen starken Männer des Kosovo: «Sie haben den Kosovo während des letzten Jahrzehnts völlig zugrunde gerichtet», findet die 33-Jährige, die neben dem Schweizer Pass auch die kosovarische Staatsbürgerschaft hat.
Mit dieser Meinung ist sie offensichtlich nicht allein: Grosse Verliererin bei den Wahlen im jüngsten Staat Europas vom letzten Sonntag war die bisher führende PDK. Sie ist die Partei der ehemaligen Kommandanten der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK, Kadri Veseli und Hashim Thaçi, die heute als Parlaments- und Staatspräsident amtieren. Die PDK ging eine Verbindung mit den Parteien ihrer früheren Waffenbrüder Ramush Haradinaj und Fatmir Limaj ein. Die Parteien der Allianz verloren kombiniert über zehn Prozent der Stimmen.
Über all diesen Politikern hängt der Verdacht, während des Kosovokriegs für Verbrechen an Angehörigen der serbischen Minderheit oder Albanern aus gegnerischen politischen Lagern verantwortlich zu sein. Gegen einige von ihnen wurde vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag Anklage erhoben. Verurteilt wurde keiner – auch weil wichtige Zeugen aus zweifelhaften Gründen ihre Aussagen zurückzogen oder unter ungeklärten Umständen starben.
Derweil leidet das Land unter einer Jugendarbeitslosigkeit von über 60 Prozent und hat nach Moldawien das zweittiefste Pro-Kopf-Einkommen Europas. Finanzielle Zuwendungen der Diaspora machen 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus oder 850 Millionen Euro – das entspricht der Hälfte des Staatsbudgets. Hinzu kommt ausufernde Korruption: Gemäss Transparency International liegt Kosovo auf dem 40. Rang von 50 europäischen und zentralasiatischen Ländern, was saubere Regierungs- und Geschäftsführung anbelangt.
Auch wegen dieser Faktoren ist die Oppositionspartei Vetëvendosje (Selbstbestimmung) die grosse Wahlsiegerin – sie verdoppelte ihren Stimmenanteil auf über 27 Prozent und ist nun die grösste Einzelpartei im Parlament. Das freut Njomza Gutaj. Sie ist Vorstandsmitglied der Schweizer Sektion von Vetëvendosje. Gemeinsam mit zahlreichen parteilosen Freiwilligen betrieb sie im Vorfeld der Wahlen einen Stand an der Zürcher Bahnhofstrasse, um Kosovaren für die Teilnahme an der Wahl zu mobilisieren.
Das Registrierungsverfahren für im Ausland lebende Kosovaren ist dermassen aufwendig, dass bei den letzten Wahlen 2014 bloss knapp 3400 ihre Stimme abgeben – obwohl die kosovarische Diaspora schätzungsweise 700’000 Köpfe zählt, darunter etwa 100’000 in der Schweiz. Zusätzlich haben 70’000 Schweizer Wurzeln im Kosovo, aber keine kosovarische Staatsangehörigkeit.
Vetëvendosje holte schon bei den letzten Wahlen 2014 die meisten Stimmen in der Diaspora. Dieser Anteil sei jetzt nochmals massiv gewachsen, meint Njomza Gutaj: «Wir Kosovaren in der Schweiz sehen, wie die Qualität staatlicher Dienstleistungen aussehen könnte, wenn sich die Behörden wie hier als Auftragnehmer des Volks sehen.» Im Kosovo hingegen betrachteten die politischen Eliten den Staat als Selbstbedienungsladen: «Die korrupten Ex-Kommandanten glauben, der Kosovo sei ihr Privateigentum.»
Dieser Meinung ist auch Osman Osmani. Der Gewerkschafter und ehemalige Schaffhauser SP-Kantonsrat kandidierte 2014 für Vetëvendosje fürs Parlament. Die Anliegen der Diaspora-Kosovaren seien der Regierung nichts wert. «Wir Diaspora-Kosovaren sind gerne bereit, für die Entwicklung des Kosovo unseren finanziellen Beitrag zu leisten, aber nicht für die Selbstbereicherung der korrupten Politiker sowie Kommandanten und ihrer Familienclans», findet der 60-Jährige.
Die ehemaligen UÇK-Führer zehrten bis heute von ihren angeblichen Heldentaten im Befreiungskampf gegen die Serben. Die grossen Opfer, welche die Gastarbeiter während Jahrzehnten für die Freiheit Kosovos gebracht haben, würden hingegen ignoriert.
Vetëvendosje verspricht einen neuen, sauberen Politikstil und wirbt damit, sich endlich um die drängendsten Alltagsprobleme zu kümmern, statt in erster Linie Pfründe für die eigenen Anhänger zu verteilen. Beobachter glauben, dass die bisherige Regierungsführung in der Hauptstadt viele Wähler von der Partei überzeugen konnte.
In Pristina eroberte Vetëvendosje vor drei Jahren das Bürgermeisteramt und erreichte seither Verbesserungen bei der Wasserversorgung, im Schulwesen, der Effizienz der Verwaltung und im Kampf gegen illegales Bauen – ohne in grössere Korruptionsfälle verwickelt zu sein.
Mit ihrem sozialdemokratisch geprägten Programm kommt Vetëvendosje vor allem bei den Jungen gut an. International umstritten hingegen ist die Absicht der Partei, im Kosovo und Albanien ein Referendum über einen Zusammenschluss der beiden Staaten durchzuführen. Der Partei wird unterstellt, ein Grossalbanien erschaffen zu wollen. Wenn die Partei bei der Regierung verfassungswidriges Handeln witterte, legte sie das Parlament auch schon mal mit Tränengasgranaten lahm.
Osmani betont, kein Nationalist zu sein. Er setze sich lediglich für das Recht auf Selbstbestimmung ein: «Man kritisiert unsere Partei von Anfang an dafür, dass wir eine demokratische Willensäusserung von Albanern im Kosovo und Albanien über ihre eigene Zukunft fordern.»
Wie Osmani glaubt auch Gutaj, dass Vetëvendosje in erster Linie gewählt wurde, weil sie eine glaubwürdige Alternative zu den bisherigen Regierungsparteien sei – insbesondere für die Kosovaren in der Diaspora.
Das derzeitige ökonomische Modell, bei dem die Überweisungen der Diaspora der Bevölkerung des Kosovo über die völlig unzulänglichen staatlichen Leistungen hinweghelfen, sei nicht zukunftsträchtig, sagt Gutaj – und nennt ein Beispiel.
«Meine Cousine ist an Krebs erkrankt und braucht alle zwei Monate eine Spritze für 300 Euro.» Die Kosten dafür müsse sich die ganze Familie vom Mund absparen. «Natürlich habe ich dann ein schlechtes Gewissen, wenn ich in der Schweiz Jeans für 150 Franken kaufe.»
Die Kosovaren in der Diaspora würden helfen, wo sie könnten: «Aber es kann einfach nicht sein, dass wir permanent quasi als Sozialversicherung des Landes einspringen müssen, bloss weil es den bisherigen Regierungen nicht gelungen ist, stabile Institutionen aufzubauen.» Stattdessen hätten sie die ausländischen Hilfsgelder seit der Nachkriegszeit lieber in die eigene Tasche als in die Entwicklung des Landes gesteckt.
Die Parteien der «korrupten Kommandanten» seien seit der Unabhängigkeit nicht willens gewesen, die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen – etwa ein funktionierendes Gesundheitswesen, ein gesichertes Einkommen und ein Schulsystem, das Perspektiven bietet. Jetzt reiche es nicht mehr, jeweils vor den Wahlen an die UÇK-Vergangenheit zu erinnern und Fahnen zu schwenken: «Patriotismus macht nicht satt.»