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Wie Judenfeindlichkeit in Berlin zum Alltag wurde

Wie Judenfeindlichkeit in Berlin zum Alltag wurde

Gefährlicher sei es in der deutschen Hauptstadt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gewesen, sagen Berliner Juden. Manche von ihnen ziehen sich zurück, viele denken ans Auswandern. Hat das Judentum in Berlin eine Zukunft?
10.12.2025, 05:2910.12.2025, 05:29
Hansjörg Friedrich Müller, Berlin / ch media

Im Februar 2024 wurde der jüdische Student Lahav Shapira vor einer Berliner Bar von einem palästinensischstämmigen Kommilitonen spitalreif geschlagen. Dass dies in Deutschlands Hauptstadt geschah, erregte Aufsehen und Entsetzen. Heute, knapp zwei Jahre später, ist es deutschen Zeitungen kaum noch eine Notiz wert, wenn arabischstämmige Demonstranten durch die Stadt ziehen und Slogans rufen, die auf eine Auslöschung Israels hinauslaufen.

«Man kann sich nicht immer verstecken»: Jüdische und nichtjüdische Berliner an einer Kundgebung für den Staat Israel vor dem Brandenburger Tor am 22. Oktober 2023.
«Man kann sich nicht immer verstecken»: Jüdische und nichtjüdische Berliner an einer Kundgebung für den Staat Israel vor dem Brandenburger Tor am 22. Oktober 2023.bild: imago

Spätestens seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die islamistische Hamas im Süden Israels den grössten Massenmord an Juden seit dem Holocaust beging, ist offener Judenhass in Berlin wieder zu einem Phänomen geworden, das zu alltäglich ist, um Schlagzeilen zu generieren. Entspannt hat sich die Lage nicht, auch wenn im Nahen Osten mittlerweile ein brüchiger Waffenstillstand herrscht.

Alle Juden werden pauschal mit Israel identifiziert

Im Zentrum Berlins befinden sich die Büroräume von Ofek, einer Beratungsstelle für Opfer antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Die Adresse, so bittet ein Mitarbeiter, solle nicht in der Zeitung stehen. Marina Chernivsky, eine dunkelhaarige, elegante Frau, ist die Leiterin des Vereins, der deutschlandweit rund vierzig Mitarbeiter hat.

Nach dem 7. Oktober 2023, so berichtet die 49-Jährige, hätten sie und ihre Kollegen einen Monat lang 15-mal so viele Anfragen wie zuvor erhalten; im Jahr danach sei die Nachfrage noch immer sechsmal so hoch geblieben. «Es war kaum zu bewältigen», erinnert sich Chernivsky.

Ofek, hebräisch für «Weite» oder «Horizont», bietet psychologische und rechtliche Beratung. «Für manche sind antisemitische Vorfälle Angriffe auf ihr Leben, etwa, wenn sie ihre bisherige Wohnung verlassen oder die Schule wechseln müssen», erklärt Chernivsky.

Marina Chernivsky.
Marina Chernivsky. bild: zvg

Die israelische Psychologin lebt seit über zwanzig Jahren in Berlin. Die Stadt, so sagt sie, sei geprägt von Protestkulturen. Gleichzeitig gebe es eine grosse und vielfältige jüdische Gemeinschaft – und viele Expats aus Israel. Dadurch werde Judenhass für viele zu einer realen Erfahrung. In den letzten beiden Jahren sei er mit besonderer Wucht zutage getreten.

Antisemitismus, so sagt Chernivsky, sei überall spürbar: im Schwimmbad, beim Dating, am Arbeitsplatz, in der Schule und an der Universität. Er müsse nicht unbedingt laut und aggressiv wie bei den antiisraelischen Kundgebungen daherkommen, sondern könne sich auch in Distanz, Gleichgültigkeit und Mangel an Empathie äussern. Derzeit richte er sich vor allem gegen Israel, «den Staat, der als Jude imaginiert wird». Hinzu komme, dass alle Juden mit Israel identifiziert würden.

Statt Eiskunstlauf ist jetzt Krav Maga angesagt

Als Praktikerin, die Betroffenen zur Seite steht, neigt Chernivsky nicht zum Jammern, doch manches, was sie sagt, tönt resignativ, anderes erschütternd: «Antisemitismus ist resistent gegen Aufklärung», oder:

«Unsere Kinder erleben, dass man alles sein darf, nur nicht jüdisch.»

Die grosse Frage, ob jüdisches Leben in Berlin, Deutschland und Europa eine Zukunft hat, mag die Psychologin nicht beantworten. «Wohin sollte man auch gehen?», fragt sie zurück. Die Vorstellung von Israel als sicherem Schutzraum sei durch das Massaker der Hamas verloren gegangen. Von Juden in Berlin höre sie immer wieder den Satz: «Wie weiss ich, wann es zu spät ist, um zu gehen?» Doch Aufbruchstimmung spüre sie nicht. Auch nach dem 7. Oktober 2023 kämen noch Israelis nach Berlin; einige überlegten sich allerdings auch, zurückzukehren.

Matthias, oder – mit seinem hebräischen Namen – Arik, nennt sich ein Mann Mitte 50, der im jüdischen Sportverein Makkabi Berlin eine führende Rolle spielt. Vor zehn Jahren, so erklärt er beim Lunch in einem asiatischen Restaurant im Osten der Stadt, hätte er noch kein Problem damit gehabt, seinen vollen Namen in der Zeitung zu lesen. «Vor fünf Jahren hätte ich das wohl schon nicht mehr gewollt.» Und seit dem Herbst 2023 sei es noch einmal schlimmer geworden.

Makkabi ist ein internationaler jüdischer Sportverband mit Ablegern in über sechzig Ländern. 1921, bei der Gründung im böhmischen Karlsbad, ging es darum, dem Bild vom intellektuell leistungsfähigen, aber körperlich schwachen Juden etwas entgegenzusetzen.

Das sei auch heute wieder nötig, meint Matthias. «Zwanzig Jahre lang wurden wir von Zuwanderern aus der früheren Sowjetunion um eine Eiskunstlauf-Abteilung angebettelt.» Seit zwei Jahren fragten die Leute fast nur noch nach der Selbstverteidigungstechnik Krav Maga. Nächstes Jahr eröffne der Verein eine Abteilung. Auch Matthias’ Söhne, 18 und 16 Jahre alt, betreiben die Sportart. Als in Berlin Ordner für eine proisraelische Demonstration gesucht wurden, meldeten sich beide freiwillig. «Man kann sich nicht immer verstecken», sagt ihr Vater.

Flucht aus der Wohnung im Schutz der Dunkelheit

Allerdings frage sich sein älterer Sohn, ob er sich an seiner Berliner Universität als Jude zu erkennen geben solle.

«Auf einer Veranstaltung für Erstsemester hielt er lieber die Schnauze.»

Sich in einer neuen Umgebung als jüdisch zu outen, bedeute, einen Stempel mit sich herumzutragen, bevor man sich selbst einen Namen machen könne. Bei seiner Frau und ihm sei es noch andersherum gewesen. Seine Söhne suchten sich gezielt jüdische Freunde.

«Das habe ich in ihrem Alter nicht getan.»

So ziehe sich die jüdische Gemeinschaft zurück – nicht, weil sie sich abschotten und eine Parallelgesellschaft bilden wollte, sondern aus einer Not heraus. Makkabi Berlin hat rund 500 Mitglieder. In Frankfurt seien es etwa zehnmal so viele, doch 80 Prozent davon seien keine Juden, sagt Matthias. «Wir in Berlin suchen mehr Balance.»

Nur so könne der Sportverein ein «Safe Space» bleiben, «in dem manche dummen Fragen einfach nicht gestellt werden». Die Fussball-Abteilung habe nach dem Herbst 2023 eine neue C- und D-Jugend aufgebaut, so gross sei die Nachfrage auf einmal gewesen. Und anders als vor einigen Jahren verfüge das jüdische Moses-Mendelssohn-Gymnasium leider kaum noch über Kapazitäten, um nichtjüdische Schüler aufzunehmen.

Matthias ist gebürtiger West-Berliner: Ein jüdischer Deutscher, der nun erkennen muss, dass der Glaube, es könne für Juden in Deutschland so etwas wie Normalität geben, eine Illusion war. Dennoch macht er einen robusten Eindruck. Selbst wenn er davon erzählt, wie er jüdischen Bekannten, die von einem arabischen Nachbarn bedroht wurden, frühmorgens im Schutz der Dunkelheit beim Umzug geholfen habe, bleiben seine Schilderungen nüchtern.

«Ich kenne niemanden, der nicht zumindest in Gedanken durchgespielt hätte, auszuwandern», sagt Matthias. Zwei Mitglieder der Schiesssport-Abteilung, der er angehört, haben Deutschland bereits verlassen. Sein älterer Sohn habe überlegt, sich in Israel freiwillig zum Militärdienst zu melden.

«Wir brachten ihn dann mit israelischen Veteranen zusammen, die ihm seine romantischen Vorstellungen austrieben.»

Muslimische Schüler wollen vom Holocaust nichts hören

Vieles von dem, was Berliner Juden berichten, könnte sich so oder ähnlich wohl auch in London, Paris oder Brüssel abspielen. Etwas aber ist anders: der historische Hintergrund. Dass sich Juden in der Stadt, in der die Schoah geplant wurde, erneut verstecken müssen, ist für die Bundesrepublik, die aus dem Massenmord an den europäischen Juden die Schlussfolgerung «Nie wieder» gezogen haben will, ein Stachel.

Dass es vor allem die arabisch-islamische Zuwanderung ist, die die Lage für Juden in Deutschland verschärft hat, wird mittlerweile seltener bestritten als noch vor ein paar Jahren. «Lehrer berichten mir, vor allem in Klassen, in denen die meisten Schüler muslimisch seien, wollten viele nichts von der Schoah hören», sagt Wenzel Michalski. Der bärtige 63-Jährige ist Geschäftsführer des Freundeskreises Yad Vashem in Berlin.

Wenzel Michalski.
Wenzel Michalski. bild: zvg

Yad Vashem ist die staatliche Holocaust-Gedenkstätte Israels in Jerusalem; der deutsche Verein, dem Michalski vorsteht, will Lehrer, aber auch Richter, Staatsanwälte, Journalisten, Polizisten und Politiker für den Umgang mit der Vergangenheit, aber auch für den heutigen Judenhass sensibilisieren. Immer wieder komme es vor, dass die deutsche Justiz Angriffe auf Synagogen als «Israel-Kritik» werte, die angeblich von der Meinungsfreiheit geschützt sei, klagt Michalski.

Seine Arbeit basiere auf einer zerstörten Hoffnung. In den Achtzigerjahren, als er studiert habe, hätten einige Kommilitonen es cool gefunden, ein Palästinensertuch zu tragen. «Das war blöd, aber wir fühlten uns nicht bedroht.» Später, in den Neunzigerjahren in Dresden, habe ihm ein Mann gesagt, dort sei im Krieg «der Jud’» gesessen, der den britischen und amerikanischen Fliegern gezeigt habe, wo sie ihre Bomben abwerfen müssten. «Auch das war schlimm, aber ich dachte, das gibt sich irgendwann. Wir glaubten gewissermassen an das Ende der Geschichte.»

Heute aber befinde man sich in der schlimmsten Situation seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs: «Dass so offen und massenhaft dumme Dinge gesagt werden.» Gefährlich findet Michalski nicht zuletzt den Antisemitismus und die Gleichgültigkeit der Mitte.

«Auf Partys werden Verschwörungstheorien verbreitet und keiner widerspricht.»

Kann es eine Bundesrepublik ohne Juden geben?

Trotzdem strahlt Michalski eine heitere Ruhe aus; er wirkt, als wäre er beseelt von seiner Aufgabe. «Wenn alles egal wäre, müsste ich meine Arbeit nicht machen», sagt er. Sein Vater, ein Holocaust-Überlebender, der vor zwei Jahren starb, redete oft in Schulen über die Schoah; Michalskis 88-jährige Mutter, die selbst keine Jüdin ist, tut dies noch immer. Einige hätten sie nach dem 7. Oktober 2023 nicht mehr einladen wollen, aus Sorge um ihre Sicherheit. «Aber sie machte weiter.»

Michalski glaubt daran, etwas erreichen zu können: Nachdem sein Sohn 2016 in einer Berliner Schule mit hohem Migrantenanteil angegriffen worden sei, habe die Klassenlehrerin seine Eltern zu einem Vortrag eingeladen. «Die Schüler entschuldigten sich, und das nicht, weil sie es mussten», berichtet er. «Ein Mädchen las sogar das Buch meines Vaters.»

Optimistisch ist Michalski gleichwohl nicht: Viele Berliner Juden wollten nach Israel gehen und täten das auch. «Die Tradition des wandernden Juden lebt wieder auf.» Dabei seien gerade die Jungen oft sehr pragmatisch: «Mein Sohn sagt etwa, in Madrid gebe es zwar auch Antisemitismus, aber wenigstens sei das Wetter dort schöner.»

Dass es Israel gibt, sieht Michalski als den grossen Unterschied zwischen heute und den Dreissigerjahren. Ihre Interessensvertretung, der Zentralrat, werde die deutschen Juden schon auffordern, rechtzeitig das Land zu verlassen. «Aber es wäre das Ende der Bundesrepublik.» Er fühle sich in Israel sehr wohl, selbst wenn die Sirenen heulten, sagt Wenzel Michalski.

«Die Frage, ob ich hierher gehöre, fällt dort weg.»
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Die beliebtesten Kommentare
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Perking
10.12.2025 05:52registriert Oktober 2020
Dass es vor allem die arabisch-islamische Zuwanderung ist, die die Lage für Juden in Deutschland verschärft hat, wird mittlerweile seltener bestritten als noch vor ein paar Jahren.

So oft wird das leider nicht gesagt.
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Big Ghän
10.12.2025 05:42registriert Januar 2024
Linke Politik, wie wir sie erleben, bewirkt das Gegenteil von dem was sie wollen. Meine Worte, leider werden sie wahr.
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