Ein alter Mann in Socken und Sandalen sitzt in seinem ausgebombten Schlafzimmer in Aleppo, raucht Pfeife und hört Musik aus einem Grammophon. Das Bild, das ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP kürzlich schoss, wird tausendfach geteilt und bewegt die Menschen auf der ganzen Welt. «Ein Roman in einem Bild», kommentiert jemand auf Twitter.
«Roman» ist in der Tat eine treffende Formulierung. Das ist die Geschichte hinter dem Bild:
Der abgebildete Mann heisst Mohammed Mohiedin Anis, ist 70 Jahre alt und wohnt im ehemals von Rebellen kontrollierten Ostteil Aleppos, der im Dezember von den Regierungstruppen zurückerobert wurde und nun in Schutt und Asche liegt. «Er war ein reicher Mann», sagt AFP-Fotograf Joseph Eid, der das berühmte Bild geschossen hat. «Er spricht fünf Sprachen, studierte Medizin, arbeitete in Italien und besass eine Kosmetikfirma.»
Beleg für seinen Reichtum ist Anis' Oldtimer-Sammlung, darunter amerikanische Klassiker wie Buick, Cadillac, Chevrolet, Hudson und Mercury. Von seinen ursprünglich 30 Autos wurden in den Kämpfen viele zerstört oder gestohlen. Einmal wollten Rebellen ein Luftabwehr-Geschütz auf seinen 1958er-Chevrolet montieren. Nachbarn gelang es, sie davon abzuhalten. «Ich liebe Autos, sie sind wie Frauen – schön und stark», sagt Anis mit einem Lächeln.
AFP hatte Anis im Januar 2016 besucht, als in Aleppo noch heftige Kämpfe wüteten, und berichtete über den Mann und seine Oldtimer. Vergangene Woche schickte die Nachrichtenagentur ein neues Team in die Stadt, um herauszufinden, wie es ihm seither ergangen war. Nach einigem Herumfragen standen sie schliesslich vor seinem Haus: «Seine Autos waren zerstört und sein Haus teilweise eingestürzt», sagt AFP-Fotograf Joseph Eid gegenüber der «Washington Post». Mit wenig Hoffnung klopften sie an die Tür. Zu ihrem Erstaunen machte Anis auf.
Der alte Mann bat die Journalisten herein und zeigte ihnen seine Wohnung. «Wir sahen all die Antiquitäten, die Sammlungen und seine Besitztümer», erinnert sich Eid. Und Anis sagte: «Nichts wird mich davon abhalten, all dies wieder aufzubauen und wieder zu leben. Ich wurde hier geboren und hier werde ich sterben.» In diesem Moment habe er realisiert, dass es nicht mehr um Autos, sondern den Lebenswillen eines alten Mannes gehe, sagt Eid.
Sie fragten ihn, wo er schlief, und Anis zeigte es ihnen. Sein Schlafzimmer glich einem Trümmerfeld, die Fenster zerborsten und die Mauern am Bröckeln. Der alte Mann setzte sich auf sein Bett, daneben stand ein altes Grammophon. «Funktioniert es noch?», fragte der Videomann scheu. «Ja, natürlich, ich zeige es euch. Moment! Ich kann nicht Musik hören, ohne mir eine Pfeife anzuzünden», erwiderte Anis. So tat er es, drehte an der Kurbel und Musik erfüllte den Raum. Eid beobachte die friedvolle Szene, eingerahmt von den Zerstörungen des Krieges. Dann drückte er ab.
Der in Beirut wohnhafte Fotograf konnte das Foto in den Tagen danach nicht vergessen. Dass es so viele Leute berührt, überrascht ihn nicht, auch wenn er es nicht erwartete. «Ich glaube, die Leute haben genug Gewalt und genug Krieg gesehen. Das Bild sagt etwas aus über das menschliche Dasein.» Joseph Eid sieht aber auch Hoffnung: «Okay, wir hatten Zerstörung. Jetzt ist Zeit für Musik.»