Kaum zu glauben, aber wahr: Recep Tayyip Erdogan, der Präsident, der die Türkei zunehmend als Autokrat führt, ist seit bald zwei Dekaden an der Macht. Viele Menschen, die zum ersten Mal wählen dürfen, kennen nur ihn als Machthaber.
Am Sonntag, 14. Mai, ist eine Wiederwahl Erdogans aber erstmals ungewiss. Dann findet nämlich die für viele «wichtigste Wahl des Jahres 2023» statt. Die Türkei – aber auch Europa – steht mit der Wahl vor einem Scheideweg.
Warum das so ist, wer dabei gewählt werden kann und welches die grössten Themen des türkischen Wahlkampfes sind:
In der Türkei finden alle fünf Jahre Wahlen statt. Gewählt werden sowohl der Präsident – bisher haben in der Geschichte der Türkei nur Männer kandidiert – als auch das Parlament.
Normalerweise finden die Wahlen in der Türkei im Juni statt. Erdogan hat sie aber um mehr als einen Monat vorziehen lassen. Offiziell begründet wurde dieser Entscheid mit den Sommerferien, in welche die Wahl fallen würde. Es wird aber vermutet, dass es sich um ein taktisches Manöver handelt. Der Grund ist die fortschreitende Inflation, die von den Wählerinnen und Wählern als eines der wichtigsten Probleme angesehen wird.
Am Sonntag, 14. Mai, können etwa 64 Millionen stimmberechtigte Türkinnen und Türken wählen. Von 8 bis 17 Uhr (lokale Zeit) sind die Wahllokale geöffnet. Erste Resultate werden für 21 Uhr erwartet, also etwa ab 20 Uhr Schweizer Zeit.
In der Türkei ist die Wahlbeteiligung traditionell sehr hoch – fast doppelt so hoch wie in der Schweiz. So gingen bei den letzten Wahlen 2018 über 86 Prozent aller Wahlberechtigten an die Urne. In diesem Jahr wird sogar eine Rekord-Wahlbeteiligung vorausgesagt.
Election turnout could reach record levels. pic.twitter.com/rMrxZPq48H
— Ozer Sencar (@ozersencar1) April 7, 2023
Im Ausland hat die Wahl übrigens schon Ende April begonnen. Die rund drei Millionen Auslandstürkinnen und -türken – etwa die Hälfte davon lebt in Deutschland – werden ebenfalls dazu aufgerufen, wählen zu gehen. In der Schweiz sind dies rund 100'000 Menschen. Sie konnten bis am vergangenen Sonntag an drei Orten in der Schweiz ihre Stimme abgeben.
2018 wurden Parlament und Präsident zum ersten Mal gleichzeitig gewählt. Die Mitglieder des Parlaments werden im Proporzverfahren gewählt. Damit eine Partei in das 600 Sitze grosse Parlament einziehen kann, braucht sie mindestens sieben Prozent – entweder alleine oder in einer Verbindung mit anderen Parteien. Seit 2018 sind 14 Parteien im Parlament vertreten.
Die Präsidentschaftswahl funktioniert folgendermassen: Wenn eine Partei bei den letzten Parlamentswahlen einen Wähleranteil von mindestens fünf Prozent erreicht hat, kann sie einen Präsidentschaftskandidaten nominieren. Ausserdem können auch Parteien jemanden nominieren, die mindestens 100'000 Unterschriften zur Unterstützung ihrer Nominierung gesammelt haben.
Schliesslich wird derjenige Kandidat zum Präsidenten gewählt, der im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen holt. Wenn das niemand schafft, findet ein zweiter Wahlgang – in diesem Jahr wäre das am 28. Mai – mit den beiden Kandidaten statt, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben.
2023 gibt es in der Türkei die Wahl zwischen vier Kandidaten:
Zum einen strebt der bisherige Machthaber Recep Tayyip Erdogan seine dritte Amtszeit als Präsident an. Er ist zugleich Vorsitzender der grössten Partei im Parlament, der rechtspopulistischen AKP.
Der Mann, der die besten Aussichten hat, Erdogan das Präsidentenamt streitig zu machen, ist Kemal Kilicdaroglu. Der 74-Jährige ist seit 2010 Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, der grössten Oppositionsfraktion im türkischen Parlament. Die CHP (auf Deutsch: Republikanische Volkspartei) wurde in den 1920er Jahren von Mustafa Kemal Atatürk gegründet, Staatsgründer der heutigen Türkei und deren erster Präsident. Kilicdaroglu, der von seinen Anhängern gerne auch als «Türkischer Gandhi» bezeichnet wird, erhält die offizielle Unterstützung von einem Bündnis aus sechs Oppositionsparteien sowie der prokurdischen Grün-Linke-Partei.
Neben den beiden Favoriten trat ursprünglich Muharrem Ince an. Ince ist kein Unbekannter: 2018 trat er schon einmal gegen Erdogan an, verlor aber bereits in der ersten Runde. Ince war lange Mitglied bei der CHP, der Partei des aussichtsreichen Kandidaten Kilicdaroglu. Aufgrund seiner mehrmals geäusserten Unzufriedenheit mit der Partei und nachdem er zweimal Kilicdaroglu im Rennen um den Parteivorsitz unterlag, trat Ince aus der CHP aus und gründete seine eigene Mitte-Links-Partei, die Memleket Partisi.
Am 11. Mai, drei Tage vor der Wahl, wurde bekannt, dass sich Muharrem Ince aus dem Rennen zurückzieht. Offiziell begründete er seine Entscheidung damit, dass er nicht wolle, dass der grössere Oppositionsblock, der hinter Kilicdaroglu stehe, ihn für dessen mögliche Niederlage verantwortlich mache. In den vergangenen Tagen waren allerdings Korruptionsvorwürfe gegen Ince laut geworden und kompromittierende Bilder aufgetaucht. Ob diese authentisch sind, ist noch unklar.
Immer noch im Rennen ist hingegen der Kandidat aus dem rechtsnationalistischen Lager: Sinan Ogan. Dem Wirtschaftswissenschaftler und Autor mit aserbaidschanischen Wurzeln werden mit Abstand die geringsten Chancen eingeräumt. Wird das Rennen aber knapp, so könnte er das oft so wichtige Zünglein an der Waage spielen und damit verhindern, dass Kilicdaroglu oder Erdogan im ersten Wahlgang gewählt wird.
Recep Tayyip Erdogan war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei. Während dieser Zeit war das Land noch eine parlamentarische Demokratie, in der es einen Ministerpräsidenten (auch als Regierungschef bezeichnet) und einen Staatspräsidenten gab. Im Sommer 2014 wechselte Erdogan ins Amt des Staatspräsidenten.
2017 brachte Erdogan eine umfassende Verfassungsänderung durch. Sie bedeutete die Umstellung von einem parlamentarischen zu einem präsidentiellen Regierungssystem, gab dem Präsidenten deutlich mehr Macht, schwächte die Kontrolle durch das Parlament und schaffte das Amt des Ministerpräsidenten ab.
Die aktuelle Verfassung der Türkei trat 2018 in Kraft. Sie sieht zwar vor, dass ein Präsident lediglich zwei Amtszeiten von fünf Jahren ausüben darf. Erdogan und die Wahlkommission argumentieren nun aber, dass seine erste Amtszeit (von 2014 bis 2018) noch in die Zeit der alten Verfassung fiel und diesbezüglich nicht gezählt werden darf.
«It's the economy, stupid» – dieser Spruch aus dem Wahlkampf Bill Clintons in den 90er Jahren trifft 2023 schon fast exemplarisch auf die Wahlen in der Türkei zu. Neben der schlechten Wirtschaftslage treibt die Wählerinnen und Wähler aber auch die Frage nach der Erdbebenhilfe sowie die erodierende Demokratie um.
Mit Abstand die grössten Sorgen bereitet der Bevölkerung der Zustand der türkischen Wirtschaft. Das hat gute Gründe: Der Bosporus-Staat sieht sich seit geraumer Zeit mit steigenden Preisen und einer Währungskrise konfrontiert.
Im Herbst 2022 erreichte die grassierende Inflation mit mehr als 84 Prozent ihren Höhepunkt. Seither hat sie sich zwar kontinuierlich verringert, lag aber im März dieses Jahres immer noch bei sehr hohen 50 Prozent.
Die Inflation wirkt sich erheblich auf die Kaufkraft der Bevölkerung aus. Sie sei auch der Grund, weshalb Erdogans Popularität erodiert sei, sagt ein türkischer Analyst gegenüber der CNN. «Das wird auch das grösste Handicap für Erdogan sein», sagt er. Die Opposition schreibt die Verantwortung für die wirtschaftliche Lage dem Präsidenten zu. Die Regierung rechtfertigt die Misere mit globalen Problemen und den gestiegenen Energiepreisen. Sie wendet ausserdem enorme Summen dafür auf, die türkische Lira mit dem Verkauf von Fremdwährungen zu stützen.
Ein weiteres Thema, das die Türkinnen und Türken beschäftigt, ist die Reaktion der Regierung auf das verheerende Erdbeben im Februar. Erdogan versucht zwar, die zerstörten Regionen rasch wieder aufzubauen und die Schäden der betroffenen Menschen mit Direktzahlungen zu kompensieren. Die Opposition um Kilicdaroglu hingegen wirft der Regierung Versagen auf ganzer Linie vor: Aufgrund schlechter Baupolitik und Korruption trage sie eine Mitschuld an der Katastrophe.
Das Erdbeben hat Erdogan allerdings weit weniger geschadet, als zu Beginn angenommen. Viele glauben nach wie vor daran, dass es der Präsident ist, der den Menschen im Nachgang der Tragödie am meisten helfen kann.
Während die Türkei unter Erdogan zunehmend autokratisch geführt wird, verspricht der Oppositionsführer Kilicdaroglu eine Stärkung der demokratischen Werte. Unter ihm solle das Präsidialsystem wieder abgeschafft und die parlamentarische Demokratie erneut eingeführt werden.
Nicht nur dadurch will sich Kilicdaroglu von Erdogan abgrenzen. Er setzt auch demonstrativ auf Versöhnung statt Polarisierung, betont Gemeinsamkeiten und präsentiert sich als Brückenbauer. In den Augen vieler hat sich Kilicdaroglu ausserdem Respekt verdient, als er sich einem 430 Kilometer langen Gerechtigkeitsmarsch von Ankara nach Istanbul anschloss – ein Protest gegen die Inhaftierung eines Abgeordneten und die Aushöhlung der Demokratie durch den Präsidenten Erdogan.
Auch die Rechte der Kurdinnen und Kurden sollen gemäss dem Oppositionsführer wieder gestärkt werden. Kilicdaroglu – ein ethnischer Alevit aus einer weitgehend kurdischen Region – schrieb kürzlich auf Twitter: «Wann immer wir über Wahlen sprechen, wann immer der (Präsidentschafts-)Palast sieht, dass er die Wahlen verlieren wird, beginnt eine kollektive Stigmatisierung und Behandlung der Kurden als Terroristen. Das ist beschämend.»
Das Thema der türkischen Beziehungen zum Ausland interessiert die Menschen im Land zwar eher geringfügig. Die Wahl am 14. Mai wird aber nicht zuletzt deshalb besonders von europäischen Ländern mit Spannung verfolgt. Erdogan hat sich nämlich zunehmend von Europa und den USA abgewandt – eine Entwicklung, die sich zu Beginn seiner Machtübernahme kaum abgezeichnet hatte.
Kilicdaroglu will diese Entwicklung umkehren. Im Wahlkampf betont er, eines seiner Hauptziele sei eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Insbesondere die Beziehungen zu Deutschland sollen gestärkt werden; das Land soll künftig wieder mehr in der Türkei investieren wollen, so Kilicdaroglu. Ausserdem will der Oppositionsführer, sollte er gewählt werden, innert kürzester Zeit erreichen, dass Türkinnen und Türken visafrei in die EU einreisen können. (Dieses Ziel wird allerdings gemeinhin als «Wunschdenken» bezeichnet.)
Eines steht fest: Noch nie waren die Chancen, gegen Erdogan zu gewinnen, so gut wie in diesem Jahr. Der Hauptgrund dürften die hohen Lebenshaltungskosten sein, die im Kontrast stehen zum sich bessernden Wohlstand der Bevölkerung, den Erdogan noch zu Beginn seiner Amtszeit vorweisen konnte. Ausserdem sieht sich der Präsident mit Vorwürfen der Korruption konfrontiert.
Fest steht aber auch: Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die jüngsten Umfragen sehen Kilicdaroglu knapp vorne. Je nach Quelle schwankt seine Zustimmung in den im April durchgeführten Umfragen zwischen 45 und 50 Prozent. Zwischen 40 und 45 Prozent der Wählenden würden sich für Erdogan entscheiden. Bei den Parlamentswahlen hingegen hat Erdogans AKP nach wie vor die Nase klar vorne.
Es ist allerdings schwierig, sich durch die Umfragen ein genaues Bild zu machen. So fand jüngst ein türkisches Institut, dass Erdogan mittlerweile auch in den Präsidentschaftswahlen wieder an erster Stelle steht. Dem Institut wird jedoch eine gewisse Nähe zur AKP und zur Regierung vorgeworfen.
Bei der Wahl am 14. Mai werden insbesondere die rund fünf Millionen Wählerinnen und Wähler entscheidend sein, die zum ersten Mal an die Urne dürfen. Viele von ihnen kennen nur Recep Tayyip Erdogan an der Spitze ihres Landes.