Am Dienstagabend gab es erste Berichte über eine Explosion auf polnischem Staatsgebiet. Die polnischen Behörden bestätigten in der Folge, dass es sich um den Einschlag einer Rakete auf einem Landwirtschaftsbetrieb im Dorf Przewodow handelte. Bei der Explosion, die sich bereits am Nachmittag um ca. 15.40 Uhr ereignete, sind zwei Menschen ums Leben gekommen. Przewodow liegt lediglich sechs Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt und rund 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Stadt Lwiw.
Bereits kurz nachdem die ersten Berichte über den Raketeneinschlag publik wurden, kursierten Gerüchte, dass es sich um eine russische Rakete handeln könnte. Russland hatte während des Tages die Ukraine massiv mit Raketen beschossen. Laut Angaben aus Kiew flogen etwa 100 Raketen auf ukrainisches Staatsgebiet, auch Lwiw war von den Attacken betroffen.
Die polnische Regierung bestätigte anschliessend in der Nacht auf Mittwoch, dass es sich um eine Rakete aus russischer Produktion handelte. Der polnische Präsident Andrzej Duda betonte allerdings, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Russland die Rakete abgefeuert hat und man keine voreiligen Schlüsse ziehen will. Sowohl Russland als auch die Ukraine verwenden Raketen aus sowjetischer Produktion.
Die aktuellsten Informationen zum Raketeneinschlag gibt es stets hier im Liveticker:
Die NATO hat umgehend auf die Berichte aus Polen reagiert und trifft sich am Mittwochmorgen zu einer Krisensitzung. Das teilte ein NATO-Sprecher der Deutschen Presse-Agentur am späten Dienstagabend mit. Zuvor hatte ein Regierungssprecher Polens in Warschau erklärt, man habe gemeinsam mit den NATO-Verbündeten beschlossen, zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des NATO-Vertrags einzuleiten.
Artikel 4 sieht Beratungen der NATO-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Seit der Gründung des NATO-Bündnisses 1949 wurde Artikel 4 offiziellen Angaben zufolge sieben Mal in Anspruch genommen.
Zuletzt war dies am 24. Februar 2022 der Fall: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und die Tschechische Republik hatten dies nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine beantragt.
Auch am G20-Gipfel in Indonesien beschäftigte man sich unmittelbar mit dem Vorfall in Polen. US-Präsident Joe Biden hat nach einem Telefonat mit dem polnischen Präsidenten Duda, ein Treffen mit den Staatschefs der G7-Staaten (USA, Frankreich, Grossbritannien, Japan, Deutschland, Italien und Kanada) abgehalten.
Am Mittwochnachmittag gab NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekannt, dass keine Indizien für einen vorsätzlichen Angriff auf Polen vorliegen. Nach vorläufigen Analysen sei der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden.
Bundespräsident Ignazio Cassis gab in der Nacht auf Mittwoch eine Stellungnahme ab. Er schrieb auf Twitter, dass er sehr beunruhigt sei aufgrund der jüngsten Entwicklungen in Polen und der Ukraine. Er ruft zur Zurückhaltung auf, damit der Vorfall in Ruhe untersucht werden kann und kondolierte den betroffenen Familien.
I’m very concerned about the latest developments in #Poland and #Ukraine. I call for the utmost restraint so that the investigation can determine the causes and responsibilities. My thoughts are with the families of the victims and with all those affected by the attacks.
— Ignazio Cassis (@ignaziocassis) November 15, 2022
Auf den Raketeneinschlag besorgt reagiert, hat auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie schrieb auf Twitter, dass sie alarmiert sei über die Berichte aus Polen und drückte dem Land ihr Beileid aus, zudem sicherte sie dem Mitgliedsland die Unterstützung und die Solidarität der EU zu. Man stehe in Kontakt und beobachte die Situation genau, so von der Leyen.
Auch andere ranghohe EU-Vertreter wie Ratspräsident Charles Michel oder Parlamentspräsidentin Roberta Metsola äusserten sich ähnlich und sicherten Polen die Unterstützung der EU zu.
Alarmed by reports of an explosion in Poland, following a massive Russian missile strike on Ukrainian cities.
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) November 15, 2022
I extend my condolences and my strongest message of support and solidarity with Poland and our Ukrainian friends.
Für Vertreter der ukrainischen Regierung war unmittelbar nach dem Vorfall klar, dass hinter dem Einschlag kein Versehen steckte, sondern dass Russland den Raketeneinschlag als solches tarnte. Präsidentenberater Mikhaylo Podolyak schrieb auf Twitter, dass es kein Unfall, sondern ein geplanter «Gruss» aus Russland sei. So etwas passiere, wenn das Böse ungestraft bleibe und wenn Politiker Russland als Aggressor zu beschwichtigen versuchten. Das russische Terrorregime müsse gestoppt werden. Zudem drückte Podolyak den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus.
Strikes on 🇵🇱 territory — not an accident, but a deliberately planned "hello" from RF, disguised as a "mistake". It happens when evil goes unpunished & politicians engage in "pacification" of aggressor. Ru-terrorist regime must be stopped. Condolences to the victims' relatives.
— Михайло Подоляк (@Podolyak_M) November 15, 2022
Auch Präsident Selenskyj äusserte sich. Er habe mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda telefoniert. Man habe Informationen ausgetauscht und die Fakten geklärt. Europa und die Welt müssten vor Russland beschützt werden
Had a call with 🇵🇱 President @AndrzejDuda. Expressed condolences over the death of Polish citizens from Russian missile terror. We exchanged available information and are clarifying all the facts. 🇺🇦, 🇵🇱, all of Europe and the world must be fully protected from terrorist Russia.
— Володимир Зеленський (@ZelenskyyUa) November 15, 2022
Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba forderte derweil eine «geeinte Reaktion» gegen Russland. Er schlug einen ausserordentlichen Nato-Gipfel mit Teilnahme der Ukraine vor, um über den Vorfall zu beraten. Zudem erneuerte die Forderung nach mehr Unterstützung bei der Luftabwehr.
Russland wies die Anschuldigungen aus der Ukraine unverzüglich zurück. Das Verteidigungsministerium in Moskau bezeichnete den Raketeneinschlag in Polen als «gezielte Provokation», um Russland erneut in schlechtes Licht zu rücken. Man habe keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen, so das Ministerium weiter. Auch die in polnischen Medien verbreiteten Fotos angeblicher Trümmerteile hätten nichts mit russischen Waffensystemen zu tun.
Obwohl Polens Regierung bestätigte, dass die Rakete aus russischer Produktion stammt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass Russland diese abfeuerte. Dies bekräftigte der polnische Präsident Andrzej Duda. Einerseits verwenden sowohl Russland als auch die Ukraine Raketen aus sowjetischer Produktion. Andererseits gibt es mehrere Szenarien, die nebst einem gezielten Angriff auch in Frage kommen. Der Ex-Militärpilot und Armeexperte Michael Fiszer skizziert im polnischen Polit-Magazin Polityka drei mögliche Optionen abseits eines mutwilligen russischen Angriffs:
Laut der Deutschen Presse-Agentur DPA sprach US-Präsident Joe Biden am frühen Mittwochmorgen aber genau von diesem S-300PM-System, das die Ukraine zur Luftabwehr einsetzt. Offizielle Bestätigungen stehen aber noch aus.
(con/sda/dpa)
D.h. mit grosser Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine ukrainische Flugabwehrrakete, die einen auf die nahe der Grenze liegende Stadt Lwiw zielenden, russichen Marschflugkörper nicht getroffen hat und sich dann nach Verfehlung des Ziels nicht wie vorgesehen selbst zerstört hat.