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Ukraine-Russland-Krieg: Was wir zum Raketeneinschlag in Polen wissen

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Der polnische Präsident Andrzej Duda spricht von einer «hohen Wahrscheinlichkeit», dass es sich um eine ukrainische Flugabwehrrakete handle.Bild: EPA PAP

2 Tote nach Raketeneinschlag in Polen – eine Übersicht in 6 Punkten

Zwei Menschen sind am Dienstagnachmittag im NATO-Land Polen ums Leben gekommen, nachdem eine Rakete aus russischer Produktion eingeschlagen ist. Der Vorfall in der Übersicht.
16.11.2022, 10:0616.11.2022, 15:06
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Was ist passiert?

Am Dienstagabend gab es erste Berichte über eine Explosion auf polnischem Staatsgebiet. Die polnischen Behörden bestätigten in der Folge, dass es sich um den Einschlag einer Rakete auf einem Landwirtschaftsbetrieb im Dorf Przewodow handelte. Bei der Explosion, die sich bereits am Nachmittag um ca. 15.40 Uhr ereignete, sind zwei Menschen ums Leben gekommen. Przewodow liegt lediglich sechs Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt und rund 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Stadt Lwiw.

Bereits kurz nachdem die ersten Berichte über den Raketeneinschlag publik wurden, kursierten Gerüchte, dass es sich um eine russische Rakete handeln könnte. Russland hatte während des Tages die Ukraine massiv mit Raketen beschossen. Laut Angaben aus Kiew flogen etwa 100 Raketen auf ukrainisches Staatsgebiet, auch Lwiw war von den Attacken betroffen.

Die polnische Regierung bestätigte anschliessend in der Nacht auf Mittwoch, dass es sich um eine Rakete aus russischer Produktion handelte. Der polnische Präsident Andrzej Duda betonte allerdings, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Russland die Rakete abgefeuert hat und man keine voreiligen Schlüsse ziehen will. Sowohl Russland als auch die Ukraine verwenden Raketen aus sowjetischer Produktion.

Die aktuellsten Informationen zum Raketeneinschlag gibt es stets hier im Liveticker:

Die Reaktion der NATO

Die NATO hat umgehend auf die Berichte aus Polen reagiert und trifft sich am Mittwochmorgen zu einer Krisensitzung. Das teilte ein NATO-Sprecher der Deutschen Presse-Agentur am späten Dienstagabend mit. Zuvor hatte ein Regierungssprecher Polens in Warschau erklärt, man habe gemeinsam mit den NATO-Verbündeten beschlossen, zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des NATO-Vertrags einzuleiten.

Artikel 4 sieht Beratungen der NATO-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Seit der Gründung des NATO-Bündnisses 1949 wurde Artikel 4 offiziellen Angaben zufolge sieben Mal in Anspruch genommen.

Zuletzt war dies am 24. Februar 2022 der Fall: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und die Tschechische Republik hatten dies nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine beantragt.

Auch am G20-Gipfel in Indonesien beschäftigte man sich unmittelbar mit dem Vorfall in Polen. US-Präsident Joe Biden hat nach einem Telefonat mit dem polnischen Präsidenten Duda, ein Treffen mit den Staatschefs der G7-Staaten (USA, Frankreich, Grossbritannien, Japan, Deutschland, Italien und Kanada) abgehalten.

Am Mittwochnachmittag gab NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekannt, dass keine Indizien für einen vorsätzlichen Angriff auf Polen vorliegen. Nach vorläufigen Analysen sei der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden.

Die Reaktion der Schweiz und der EU

Bundespräsident Ignazio Cassis gab in der Nacht auf Mittwoch eine Stellungnahme ab. Er schrieb auf Twitter, dass er sehr beunruhigt sei aufgrund der jüngsten Entwicklungen in Polen und der Ukraine. Er ruft zur Zurückhaltung auf, damit der Vorfall in Ruhe untersucht werden kann und kondolierte den betroffenen Familien.

Auf den Raketeneinschlag besorgt reagiert, hat auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie schrieb auf Twitter, dass sie alarmiert sei über die Berichte aus Polen und drückte dem Land ihr Beileid aus, zudem sicherte sie dem Mitgliedsland die Unterstützung und die Solidarität der EU zu. Man stehe in Kontakt und beobachte die Situation genau, so von der Leyen.

Auch andere ranghohe EU-Vertreter wie Ratspräsident Charles Michel oder Parlamentspräsidentin Roberta Metsola äusserten sich ähnlich und sicherten Polen die Unterstützung der EU zu.

Das sagt die Ukraine

Für Vertreter der ukrainischen Regierung war unmittelbar nach dem Vorfall klar, dass hinter dem Einschlag kein Versehen steckte, sondern dass Russland den Raketeneinschlag als solches tarnte. Präsidentenberater Mikhaylo Podolyak schrieb auf Twitter, dass es kein Unfall, sondern ein geplanter «Gruss» aus Russland sei. So etwas passiere, wenn das Böse ungestraft bleibe und wenn Politiker Russland als Aggressor zu beschwichtigen versuchten. Das russische Terrorregime müsse gestoppt werden. Zudem drückte Podolyak den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus.

Auch Präsident Selenskyj äusserte sich. Er habe mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda telefoniert. Man habe Informationen ausgetauscht und die Fakten geklärt. Europa und die Welt müssten vor Russland beschützt werden

Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba forderte derweil eine «geeinte Reaktion» gegen Russland. Er schlug einen ausserordentlichen Nato-Gipfel mit Teilnahme der Ukraine vor, um über den Vorfall zu beraten. Zudem erneuerte die Forderung nach mehr Unterstützung bei der Luftabwehr.

Das sagt Russland

Russland wies die Anschuldigungen aus der Ukraine unverzüglich zurück. Das Verteidigungsministerium in Moskau bezeichnete den Raketeneinschlag in Polen als «gezielte Provokation», um Russland erneut in schlechtes Licht zu rücken. Man habe keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen, so das Ministerium weiter. Auch die in polnischen Medien verbreiteten Fotos angeblicher Trümmerteile hätten nichts mit russischen Waffensystemen zu tun.

Welche Szenarien sind möglich?

Obwohl Polens Regierung bestätigte, dass die Rakete aus russischer Produktion stammt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass Russland diese abfeuerte. Dies bekräftigte der polnische Präsident Andrzej Duda. Einerseits verwenden sowohl Russland als auch die Ukraine Raketen aus sowjetischer Produktion. Andererseits gibt es mehrere Szenarien, die nebst einem gezielten Angriff auch in Frage kommen. Der Ex-Militärpilot und Armeexperte Michael Fiszer skizziert im polnischen Polit-Magazin Polityka drei mögliche Optionen abseits eines mutwilligen russischen Angriffs:

  • Eine defekte russische Rakete: Möglich ist laut Fiszer, dass es einen Fehler im Navigationssystem einer russischen Rakete gab und diese ihr eigentliches Ziel komplett verfehlte. Von den tausenden Raketen, die Russland abfeuere, gebe es immer wieder solche mit Defekten, die nicht dort einschlagen, wo sie sollten.
  • Eine russische Rakete wurde durch eine ukrainische Flugabwehrrakete beschädigt: Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass eine von Russland abgefeuerte Rakete von der ukrainischen Luftabwehr getroffen, aber nicht ganz abgeschossen, sondern nur beschädigt wurde. Das Navigationssystem der Rakete könnte dabei beschädigt worden und die Rakete damit nicht mehr kontrollierbar gewesen sein, woraufhin sie abstürzte, sobald sie keinen Treibstoff mehr hatte, so Fiszer.
  • Eine fehlgeleitete ukrainische Flugabwehrrakete: Als dritte Möglichkeit kommt laut Fiszer auch eine ukrainische Flugabwehrrakete in Frage, die ihr Ziel verfehlte und deren Selbstzerstörungsmechanismus nicht funktionierte. Dann müsste es sich laut dem Militärexperten aber um eine Rakete des S-300PM-Systems handeln. Er bezeichnet diese Möglichkeit als eher unwahrscheinlich, da die Ukraine nur über wenige solcher Systeme verfüge und diese nach aktuellem Kenntnisstand vor allem in der Region Charkiw und Kiew zum Einsatz kämen.
    Der polnische Präsident Duda sagte um die Mittagszeit, dass es sich «mit hoher Wahrscheinlichkeit» um eine ukrainische Flugabwehrrakete handle.

Laut der Deutschen Presse-Agentur DPA sprach US-Präsident Joe Biden am frühen Mittwochmorgen aber genau von diesem S-300PM-System, das die Ukraine zur Luftabwehr einsetzt. Offizielle Bestätigungen stehen aber noch aus.

(con/sda/dpa)

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87 Kommentare
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Martin Baumgartner
16.11.2022 04:47registriert Juni 2022
Es ist doch immer das selbe mit russischen Raketen. Sie kommen aus dem „Nichts“ (vielleicht aus einem Paralleluniversum)! So wie im Juni 2014 als die Boeing der Malaysia-Airlines von einer russischen Buk M1 getroffen wurde. Auch diese Rakete kam aus dem „Nicht“! Niemand hatte sie abgefeuert. Trotzdem mussten 298 Menschen sterben.
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Perkon20
16.11.2022 06:03registriert Juli 2018
Finde das so kurios: Es ist schlimmer, dass die Rakete das falsche Ziel getroffen hat, als dass sie überhaupt geschossen wurde. Wenn sie in einem ukrainischen Einfamilienhaus gelandet wäre, dann wäre ja alles in Ordnung, aber sie darf sicher nicht in Polen explodieren, sonst droht der Dritte Weltkrieg!
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pontian
16.11.2022 07:41registriert Januar 2016
Gemäss neusten Mitteilungen der USA wurde die Rakete nicht in Russland abgefeuert.

D.h. mit grosser Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine ukrainische Flugabwehrrakete, die einen auf die nahe der Grenze liegende Stadt Lwiw zielenden, russichen Marschflugkörper nicht getroffen hat und sich dann nach Verfehlung des Ziels nicht wie vorgesehen selbst zerstört hat.
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