Offener Machtkampf in Kiew – Selenskyjs wichtigster Mann ist schwer angeschlagen
Auch in der Woche nach den ersten Enthüllungen über weitreichende Korruption im ukrainischen Energiesektor bleibt das politische Leben in Kiew turbulenter denn je. Der Skandal um den mittlerweile nach Israel geflohenen Geschäftsmann Tymur Minditsch, einst ein enger Verbündeter von Präsident Wolodymyr Selenskyj, hält das Land weiter in Atem.
Die bisher vom Nationalen Antikorruptionsbüro (Nabu) veröffentlichten Tonaufnahmen – sie betreffen mutmassliche Schmiergeldforderungen von Minditsch und seinen Mitstreitern an Lieferanten des staatlichen Energieunternehmens Energoatom – dürften nur die Spitze des Eisbergs sein.
Nabu deutet bereits an, dass Minditsch, dem 50 Prozent an Selenskyjs ehemaliger Fernsehproduktionsfirma Kwartal 95 gehören, nicht nur Einfluss auf die Energiebranche, sondern auch auf den früheren Verteidigungsminister und heutigen Sicherheitsratssekretär Rustem Umerow genommen haben soll.
Minditsch wird mit der Firma Fire Point in Verbindung gebracht – dem grössten ukrainischen Auftragnehmer im Bereich Langstreckendrohnen und Entwickler des Marschflugkörpers «Flamingo». In Kiew kursiert seit Monaten das Gerücht, Nabu prüfe mögliche Überpreise bei Drohnenlieferungen. Fachleute halten die Geräte zwar für effektiv, doch Fragen zur Preisgestaltung stehen im Raum.
Weitere Enthüllungen werden folgen
Dass in den kommenden Wochen und Monaten weitere Enthüllungen folgen, gilt als wahrscheinlich. Laut Nabu wurden im Rahmen der «Operation Midas» bisher 40 in den abgehörten Gesprächen genannte Decknamen noch nicht eindeutig identifiziert. Besonders brisant ist der Codename «Ali-Baba». Nach Angaben des oppositionellen Parlamentsabgeordneten Jaroslaw Schelesnjak, der seit Jahren Korruptionsfälle untersucht, soll sich dahinter Selenskyjs mächtiger Stabschef und rechte Hand Andrij Jermak verbergen – jener Jermak, der sich am Mittwoch noch mit Selenskyj in der Türkei befand.
Mit den Rücktrittsforderungen gegen den Justizminister Herman Haluschtschenko und Energieministerin Switlana Hrintschuk sowie den Sanktionen gegen Minditsch und einen weiteren Beteiligten konnte Selenskyj die grösste innenpolitische Krise seiner Amtszeit zwar vorerst eindämmen. Doch inzwischen fordern auch Stimmen aus den eigenen Reihen, der Präsident müsse sich von Jermak trennen – dem Mann, der nach Selenskyj als der einflussreichste Politiker des Landes gilt. Kritiker werfen ihm seit Jahren übermässigen Einfluss auf Personalentscheidungen und eine faktische Kontrolle über die Regierung vor.
Laut der Online-Zeitung «Ukrajinska Prawda» sorgt Jermaks Rolle nun auch innerhalb der Präsidentenpartei «Diener des Volkes» für Spannungen. Deren formelle Mehrheit im Parlament ist ohnehin seit Langem nur noch auf dem Papier existent.
Erstmals offene Risse
Am Dienstag und Mittwoch wurden erstmals offene Risse sichtbar: Abgeordnete forderten öffentlich Jermaks Entlassung. Kurz darauf zog Oppositionspolitiker Mykyta Poturajew nach – und ging noch weiter, indem er eine neue Regierungskoalition unter Einbezug anderer politischer Kräfte ins Spiel brachte. Die Bildung einer «Regierung der nationalen Einheit» ist eine alte Forderung der Opposition, die in den letzten zwei Wochen neuen Auftrieb erhalten hat.
Ob eine solche Einheitsregierung tatsächlich praktikabel wäre, ist fraglich. Eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Selenskyj und seinem Erzfeind, Ex-Präsident Petro Poroschenko, gilt als kaum vorstellbar – die Feindschaft zwischen beiden sitzt tief. Einen einfachen Ausweg aus der Krise hat Selenskyj nicht: Am Dienstag konnte das Parlament nicht einmal über die Entlassung der in die Minditsch-Affäre verwickelten Minister abstimmen, weil die Opposition die Sitzung blockierte und den Rücktritt der gesamten Regierung forderte. Erst am Mittwoch gelang die Abstimmung.
Ob sich Selenskyj am Ende tatsächlich von seiner rechten Hand Jermak trennt – der auch aussenpolitisch zentrale Prozesse steuert –, hängt wesentlich davon ab, wie stark dieser in die Affäre um Tymur Minditsch verstrickt ist. Minditschs Einflussbereich verlief bislang eher parallel zu dem Jermaks: Während Letzterer sich um Innen- und Aussenpolitik sowie das Justizsystem kümmerte, konzentrierte sich Minditsch auf wirtschaftliche Fragen. In den letzten Jahren hatte er sich eine eigene «Quote» von vier Ministern gesichert, die ihm zugerechnet wurden. Dass Jermak von dessen Machenschaften nichts wusste, erscheint schwer vorstellbar.
Nach seiner Rückkehr aus der Türkei will sich Selenskyj zunächst mit seiner Parlamentsfraktion treffen – ein einfaches Gespräch dürfte das nicht werden. (aargauerzeitung.ch)
- Schweizer Unternehmer legt sich mit Tech-Konzernen an – Volksinitiative gegen Fake News
- Landesweite Stromausfälle in der Ukraine +++ Polen kritisiert angeblichen Geheimplan
- Mitte, FDP und SVP wollen Schweizer Rüstungsindustrie retten – darunter leidet die Ukraine
- Schweizer Elektronik in russischen Drohnen – nur zwei Länder «liefern» mehr
