Russlands Offensive in Richtung der zweitgrössten Stadt der Ukraine gerät immer mehr ins Stocken. Aus der Grenzregion Belgorod fielen russische Truppen vor rund einem Monat östlich von Charkiw in die Ukraine ein. Zunächst beinahe ungehindert, dann unter hohen Verlusten, gelangen an der neuen Front einige Gebietsgewinne. Ziel der Operation war es, sich Charkiw in Reichweite von Rohrartillerie zu nähern. Dieses Unterfangen ist vorerst gescheitert. In den letzten Tagen gelang es den ukrainischen Verteidigern gar, wieder etwas Land zurückzuerobern.
Die heftigsten Kämpfe erlebt zurzeit Wowtschansk, wo sich Russland nach Angaben des ukrainischen Oberkommandierenden Oleksandr Syrskyj «komplett festgefahren» hat. Das Dorf wurde im Vorfeld von der Ukraine evakuiert. In Charkiw geht das Leben derweil weiter.
Die 1,5-Millionen-Stadt liegt nur 32 Kilometer von der Grenze entfernt. Fast täglich werfen russische Bomber Gleitbomben auf Ziele in der Metropole ab – und das beinahe unbehelligt. Sie müssen dafür nicht einmal russischen Luftraum verlassen. Die Voraussetzungen haben sich nun aber geändert. Die USA erlaubt der Ukraine neuerdings (unter Auflagen), mit US-Waffensystemen auch Ziele auf russischem Gebiet zu erfassen.
Ob die Ukraine dies bereits getan hat, wollte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten, John Kirby, nicht kommentieren. Einige Indizien deuten aber darauf hin. So zeigt Videomaterial vom Anfang Juni, wie ein russisches S-400-Luftabwehrsystem in der Oblast Belgorod zerstört wurde – mutmasslich von ukrainischen HIMARS. Trotzdem kam es auch gestern wieder zu Gleitbombenangriffen auf Charkiw.
Doch für die Verteidiger gibt es weitere gute Neuigkeiten. Langsam trifft die sehnlichst erwartete Artilleriemunition an der Front ein. Die ukrainische Artillerie ist der russischen zahlenmässig weit unterlegen. Die Rede ist von einem Verhältnis von 1:5. Bis der Munitionsfluss steht und die Auswirkung davon auf das Kriegsgeschehen sichtbar sind, dauert es laut ukrainischen Soldaten vor Ort aber noch einige Monate. Dann dürften auch die ersten F-16 für die Ukraine zum Einsatz kommen.
Weniger erfreulich für die Verteidiger sieht die Lage in den Oblasten Luhansk und Donezk aus. Dort gelangen russischen Truppen in den letzten Tagen an verschiedenen Stellen bestätigte Gebietsgewinne zwischen 300 Metern und 1,5 Kilometern. Mindestens ein Zwischenziel des Kreml wird sein, die beiden Oblaste komplett einzunehmen. Als Nächstes soll Tschassiw Jar fallen. Die Stadt mit einst 13’000 Einwohnern liegt westlich von Bachmut, das vor einem Jahr nur mithilfe der Wagner-Söldner – und unter Inkaufnahme unmenschlicher Verluste – eingenommen werden konnte.
An der Front im Süden, wo die gescheiterte Gegenoffensive der Ukraine vom letzten Sommer noch am erfolgreichsten war, versucht Russland, die verlorenen Gebiete wieder zurückzubesetzen. Im Zentrum steht dabei das Dorf Robotyne. Nach Gebietsgewinnen westlich und östlich des Dorfes scheint es nur eine Frage der Zeit, bis auch die ehemals bewohnten Gebiete wieder in russische Hände fallen.
Russland behauptet, die komplett dem Erdboden gleichgemachten Häuserzeilen bereits unter Kontrolle zu haben. Die Ukraine bestreitet diese Darstellung. Das Institut for the Stuty of War (ISW), beschreibt die Situation aktuell als unübersichtlich. Proklamierte Gebietsgewinne der Invasoren hätten bisher nicht bestätigt werden können.
Eine Pattsituation offenbart sich aktuell entlang des Dnipro. Das ISW meldet, Bilder von Aufklärungsdrohnen würden darauf hindeuten, dass die Ukraine ihren Brückenkopf bei Krynky wieder aufgegeben hat. Auf der anderen Seite melden russische Militärblogger einen akuten Mangel an Schiffen und Aussenbordmotoren.
Das muss einem endlich in den Köpfen gehen. Das innere Rumgehampel in der Politik spielt Russland nur in den Karten.
Moskau getroffen wird