Morgen Mittwoch soll in Istanbul die nächste Verhandlungsrunde zwischen der Ukraine und Russland stattfinden, falls der Kreml zustimmt. Die Aussichten auf einen Waffenstillstand sind freilich eher gering. Russland, das bereits 2014 die ukrainische Halbinsel Krim und nach Beginn seines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs weitere Gebiete des Nachbarlandes annektiert hat, verlangt von der Ukraine die Anerkennung dieser Annexionen sowie den Verzicht auf einen NATO-Beitritt und westliche Militärhilfe. Die Ukraine weist diese Maximalforderungen zurück.
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An der Front gehen die Kämpfe unterdessen in unverminderter Härte weiter. Allein am vergangenen Sonntag verzeichnete der ukrainische Generalstab 122 russische Angriffe an verschiedenen Abschnitten der Front, die von Artillerie und aus der Luft unterstützt wurden. Die russische Luftwaffe warf dabei 71 gelenkte Gleitbomben auf die gegnerischen Stellungen ab. Diese Angaben lassen sich – wie nahezu immer – nicht unabhängig prüfen. Die verstärkte Intensität der russischen Angriffe dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass Moskau vor den Verhandlungen noch versucht, vermehrt Druck aufzubauen.
Insgesamt hat sich der Frontverlauf in den letzten Tagen indes nur geringfügig verändert. Nach wie vor rücken die russischen Bodentruppen vor – allerdings weiterhin nur sehr langsam. Die letzten umfangreichen Gebietsgewinne konnten sie im März erzielen, als sich die ukrainischen Truppen aus der von ihnen teilweise besetzten russischen Oblast Kursk zurückzogen.
Im Norden der Front, in der Region Sumy, vermochte die ukrainische Armee laut dem Lagebericht des Institute for the Study of War (ISW) in den vergangenen Tagen bei Kindratiwka einen Gebietsstreifen zurückzuerobern, während Russland weiter östlich den Ort Jabluniwka einnehmen konnte.
Dagegen stiessen russische Einheiten weiter südöstlich in den Regionen Luhansk und Donezk vor, namentlich bei Lypowe nördlich von Lyman und in Richtung von Nowopawliwka an der Grenze zur Oblast Dnipro, wo sie den Ort Selenji Hai erreichten. Ukrainische Truppen stiessen westlich von Torezk und bei Kamjanske, in der Oblast Saporischschja, vor.
Bei Pokrowsk, das der ukrainischen Armee als logistisches Drehkreuz zur Versorgung der Einheiten im Donbass dient, hat sich die Lage allerdings für die ukrainischen Verteidiger weiter verschärft. Dort versuchen die russischen Truppen, die Stadt von Nordosten und Südwesten her einzukreisen. Seit Anfang Juli haben sie dabei territoriale Fortschritte erzielt.
Der russische Geländegewinn bei Pokrowsk ist auch deshalb von Belang, weil nun die Hauptversorgungsroute, die durch Rodynske in die umkämpfte Stadt führt, nicht nur in Reichweite der feindlichen Artillerie liegt, sondern auch der Gefahr durch FPV-Drohnen ausgesetzt ist. Dies wird die Versorgungslage in Pokrowsk weiter erschweren. Falls kein erfolgreicher ukrainischer Entlastungsangriff erfolgt, der die russischen Truppen zurückdrängt, könnten die logistischen Probleme die Verteidiger mittelfristig dazu nötigen, die Stadt aufzugeben. Nach Einschätzung der vor Ort kämpfenden Soldaten ist der Fall von Pokrowsk unvermeidlich. Ein ukrainischer Drohnenpilot sagte gegenüber «The Kyiv Independent», es sei leider nur eine Frage der Zeit.
In der Schlacht um Pokrowsk setzt die russische Armee konsequent auf Flankenangriffe statt der extrem verlustreichen Frontalangriffe und Häuserkämpfe; mit ihrer Umfassungsstrategie versucht sie primär, die Versorgungslinien der Stadt abzuschneiden. Zugleich steht der Kampf um Pokrowsk exemplarisch für den Übergang zu einer neuen Phase der Kriegsführung: Weg vom Abnutzungskrieg, hin zu einem Krieg, der vornehmlich mit Drohnen geführt wird.
In den letzten Monaten hat Russland gemäss der Militärexpertin Patricia Marins die Produktion von Glasfaserdrohnen massiv ausgeweitet und gleichzeitig den Einsatz von Störsendern gegen ukrainische Drohnen intensiviert. Zudem werden Gleitbomben gegen ukrainische Stellungen und Infrastruktur wie Eisenbahnen eingesetzt. Die Ukraine reagiert darauf mit dem Bau von massiven Verteidigungslinien – mit Stacheldraht, Panzerabwehrgräben, Hindernissen, Schützengräben und getarnten kleinen Bunkern – hinter der Front.
Beide Seiten setzen immer mehr auf Drohnen statt auf Panzerverbände. Der Kommandant der Unbemannten Streitkräfte der Ukraine, Robert Brovdi, sagte kürzlich, die unbemannten Systeme wie Drohnen oder Roboter machten lediglich zwei Prozent der Armee aus, würden aber jeden dritten feindlichen Soldaten und jedes dritte feindliche Ziel eliminieren. Die Ukraine sei zudem dabei, ein Projekt für eine mehrstufige sogenannte Drohnenmauer umzusetzen. Sie soll alle Luftziele, von Aufklärungs- bis hin zu Angriffsdrohnen, abfangen. Brovdi wies darauf hin, dass es in den NATO-Staaten keine solchen – oder nur unzureichend entwickelte – Einheiten gebe. (dhr)