Am 24. Februar hat Russland mit der gross angelegten Invasion der Ukraine begonnen. Seither sind mutmasslich Kriegsverbrechen vonseiten beider Kriegsparteien begangen worden. Sie verstossen fundamental gegen das humanitäre Völkerrecht, das den «weitestmöglichen Schutz» von Menschen, Gebäuden, Infrastruktur und der natürlichen Umwelt vor jeglichen Kampfhandlungen vorsieht.
Ein Tribunal für im Ukraine-Krieg begangene Kriegsverbrechen gibt es bis anhin nicht. Berichte und Einschätzungen von internationalen Organisationen wie der UNO, der OSZE und der EU geben nun aber einen Überblick über die Folgen der Kämpfe und welche Auswirkungen der Angriffskrieg bisher auf die Bevölkerung hatte. Die wichtigsten Erkenntnisse:
Als die ukrainischen Soldaten in die befreite Stadt Butscha nördlich von Kiew einrücken, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens. Leblose Körper mitten auf der Strasse, einigen von ihnen wurden die Hände auf den Rücken gefesselt. Alles Zivilisten. Die Gräueltaten lösten weltweit grosses Entsetzen aus.
Seither steht Butscha sinnbildlich für die Kriegsverbrechen in den nördlichen Vororten der ukrainischen Hauptstadt, welche die dort rund 40'000 Mann starken russischen Truppen während der dreiwöchigen Besatzung begingen. Auch in anderen Kiewer Vororten wie Irpin, Hostomel und Borodjanka wurden zahlreiche getötete Zivilisten entdeckt.
Bis im August wurden nach ukrainischen Angaben alleine in Butscha 458 Leichen gefunden, 419 von ihnen trugen Anzeichen von Misshandlungen und wurden hingerichtet. Noch Tage nach dem russischen Truppenabzug tauchten in den Vororten Kiews weitere Massengräber und Folterkeller auf. Zudem wurden auch in Kanalisationen, Gräben und Brunnenschächten Leichen gefunden.
Zuletzt bestätigte die Beobachtungsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine (HRMMU), dass die Gräueltaten in den Vororten von Kiew als Kriegsverbrechen zu bezeichnen sind. Der Kommissionsvorsitzende Erik Møse sagte in Genf:
Die Untersuchung der Menschenrechtsexperten konzentrierte sich vorerst auf die Anfangsphase der Invasion im Februar und März und auf die Regionen Kiew, Tschernihiw, Charkiw und Sumy. Bei Besuchen an diesen Kriegsschauplätzen fiel der Kommission eine hohe Zahl an Exekutionen auf. Opfer seien oft vor ihrem Tod festgenommen und gefesselt worden. Leichen wiesen Schusswunden in den Köpfen und aufgeschlitzte Kehlen auf.
Vor kurzem wurden zudem vom ukrainischen Geheimdienst abgehörte Telefonate von russischen Soldaten mit ihren Angehörigen veröffentlicht. Die desillusionierten Soldaten berichteten, vor allem aus den Vororten von Kiew, von willkürlichen Folterungen und Ermordungen von Zivilisten.
Laut HRMMU waren Verschwindenlassen und willkürliche Festnahmen in Gebieten durch russische Truppen oder prorussische Separatisten weit verbreitet. Auch Fälle von sexueller Gewalt und Vergewaltigungen wurden dokumentiert. Seit Beginn der russischen Invasion verzeichnete die Mission 6114 zivile Todesopfer, zusammen mit 9132 Verletzten (Stand 03. Oktober), wobei die tatsächlichen Zahlen viel höher sein dürften, da vollständige Informationen aus Konfliktgebieten kaum erhältlich sind.
Weitaus länger als die Besatzung der Vororte Kiews dauerte die Belagerung von Mariupol durch prorussische Streitkräfte. Bereits am 2. März brach in der ukrainischen Hafenstadt die Wasser- und Stromversorgung sowie jegliche Infrastruktur in Folge der grossflächigen Bombardierungen zusammen. Erst Mitte Mai ergaben sich die letzten Verteidiger der Stadt, die sich im Asow-Stahlwerk verschanzt hatten.
Gemäss örtlicher Behörden wurden alleine bis Anfang April Tausende Menschen getötet. Nicht nur starben sie im Bomben- und Granatenhagel, sondern laut dem World Food Programm der UNO auch an Unterernährung. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen bemerkte zudem, dass die Einwohnerinnen und Einwohner der heute zu rund 90 Prozent zerstörten Stadt auch in Folge fehlender medizinischer Versorgung starben.
Eine Evakuierung von Zivilisten sowie humanitäre Nothilfe in der Stadt selbst durch das IKRK wurde mehrfach verhindert. Unter anderem wurde im Juni ein Massengrab mit mutmasslich bis zu 20'000 Bewohnern der Stadt gefunden. Genaue Opferzahlen sind bis anhin nicht bekannt.
Die Europäische Union verurteilte das russische Vorgehen in der einst blühenden Hafenstadt als Kriegsverbrechen. Westliche Diplomaten sehen die Belagerung der Stadt als vergleichbar mit der Belagerung von Aleppo in Syrien, wo Hunderttausende starben. Um die Welt gingen die Bilder nach der Bombardierung des Theaters von Mariupol und einer Geburtsklinik, die unter anderem von der OSZE als Kriegsverbrechen eingestuft wurden.
Im Theater sollen zum Zeitpunkt der Bombardierung mindestens 1000 Zivilisten Deckung gesucht haben. Weiter deportierten die russischen Streitkräfte Tausende Zivilisten aus Mariupol nach Russland – gegen ihren Willen, ebenfalls ein Völkerrechtsbruch.
Der vor kurzem veröffentlichte Bericht der Vereinten Nationen stellte auch fest, dass ukrainische Kriegsgefangene gefoltert oder grausam behandelt wurden. «Solche Misshandlungen scheinen systematisch zu sein, nicht nur nach ihrer Gefangennahme, sondern auch nach ihrer Überstellung an Orte der Internierung», sagte HRMMU-Chef Erik Møse. Das Bild des abgemagerten, vor kurzem während eines Gefangenenaustauschs freigekommenen, ukrainischen Asow-Kämpfers Mikhailo Dianov, ging um die Welt.
Die Misshandlung von Kriegsgefangenen verstösst gegen die Genfer Konventionen, wonach Kriegsgefangene den Anspruch auf Schutz haben. Bereits im Juli sorgte ein Schauprozess gegen Angehörige der ukrainischen Armee im russisch besetzten Donezk international für Aufsehen.
Verbrechen gegenüber Kriegsgefangenen werden indessen von beiden Seiten verübt. Auch einige russische Kriegsgefangene wurden von ukrainischen Streitkräften gefoltert und misshandelt. Bereits im April ging ein Video viral, dass die Hinrichtung russischer Soldaten – die sich im Zuge des Rückzugs aus der Region Kiew ergeben hatten – zeigt.
450 namenlose Gräber wurden in einem Wald nahe der Anfang September befreiten Stadt Isjum im Oblast Charkiw gefunden. Hier haben die Untersuchungen erst begonnen, aber vieles deutet auf ähnlich brutale Massaker wie in den Vororten von Kiew hin. Viele der bisher exhumierten Leichen wiesen laut internationalen Beobachtern Folterspuren auf.
Diese haben die Getöteten wohl ebenfalls den russischen Besatzern zu verdanken. Laut dem ukrainischen Polizeichef Ihor Klimenko sind im ganzen befreiten Gebiet in der Oblast Charkiw bisher zehn Foltergefängnisse entdeckt worden. Sechs sollen sich in Isjum befinden, zwei in der ebenfalls befreiten Stadt Balaklija.
Zeugenberichte bestätigen bereits den Foltervorwurf gegen die russischen Besatzer. Gleichzeitig sind die mit der Befreiung der Gebiete begonnenen und dokumentierten Säuberungen der ukrainischen Armee gegen Kollaborateure ebenfalls als Kriegsverbrechen zu werten.
Neben den weltweit beachteten Massakern von Butscha oder Irpin begingen die russischen Streitkräfte mit dem wiederholten Beschuss von zivilen Konvois oder zivilen Einrichtungen, wie zum Beispiel dem Markt von Slowjansk in der Ostukraine, ebenfalls diverse Kriegsverbrechen – deren Aufzählung ist nach mehr als sieben Monaten Krieg aufgrund ihrer hohen Zahl fast unmöglich. Zuletzt starben bei einem Raketenangriff auf einen zivilen Autokonvoi in der südukrainischen Stadt Saporischschja nach ukrainischen Angaben 30 Menschen.
Zuweilen werden auch ukrainische Städte wie Charkiw im Nordosten oder Mikolajew im Südwesten immer wieder Ziel von Raketenangriffen. Oft werden zivile Einrichtungen oder Wohnhäuser getroffen. Alleine im Monat September starben nach Angaben der UNO insgesamt 1222 ukrainische Zivilisten im Zusammenhang mit dem Krieg. Die meisten von ihnen durch Artillerie- oder Raketenbeschuss.
Wie viele russische Kriegsverbrechen noch ans Licht kommen werden, dürfte auch davon abhängen, inwieweit die ukrainischen Gegenoffensiven erfolgreich sind. Denn der bisherige Kriegsverlauf zeigt: Je mehr Gebiete von der ukrainischen Armee befreit werden, desto mehr Gräueltaten der Besatzer werden bekannt.
Ich persönlich halte die Sachlage für ausreichend dokumentiert, dass man hier problemlos das "mutmasslich" weglassen oder durch höchstwahrscheinlich ersetzen könnte.
Nein, verhandelt wird erst, wenn kein russischer Soldat mehr auf ukrainischem Boden steht.
Und ja: Die Kriegsverbrechen müssen restlos aufgearbeitet und die Verantwortlichen bestraft werden. Denn Straflosigkeit führt zu Wiederholung.