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Diese mutmasslichen Kriegsverbrechen hat Russland bisher begangen

FILE - People stand next to a mass grave in Bucha, on the outskirts of Kyiv, Ukraine, April 4, 2022. The Kremlin and Russian state media are aggressively pushing a baseless conspiracy theory blaming t ...
Im Kiewer Vorort Butscha werden nach dem Abzug der russischen Truppen Hunderte Leichen entdeckt.Bild: keystone

Diese mutmasslichen Kriegsverbrechen hat Russland bisher begangen

Zahlreiche mutmasslichen Kriegsverbrechen sind während des seit mehr als sieben Monaten andauernden Kriegs in der Ukraine bereits dokumentiert – viele weitere Gräueltaten dürften unerkannt bleiben. Eine Übersicht zu den bisher dokumentierten Fällen.
05.10.2022, 09:3405.10.2022, 09:47
Hans-Caspar Kellenberger / ch media
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Am 24. Februar hat Russland mit der gross angelegten Invasion der Ukraine begonnen. Seither sind mutmasslich Kriegsverbrechen vonseiten beider Kriegsparteien begangen worden. Sie verstossen fundamental gegen das humanitäre Völkerrecht, das den «weitestmöglichen Schutz» von Menschen, Gebäuden, Infrastruktur und der natürlichen Umwelt vor jeglichen Kampfhandlungen vorsieht.

Ein Tribunal für im Ukraine-Krieg begangene Kriegsverbrechen gibt es bis anhin nicht. Berichte und Einschätzungen von internationalen Organisationen wie der UNO, der OSZE und der EU geben nun aber einen Überblick über die Folgen der Kämpfe und welche Auswirkungen der Angriffskrieg bisher auf die Bevölkerung hatte. Die wichtigsten Erkenntnisse:

Triggerwarnung
In diesem Artikel geht es auch um Verstorbene im Ukraine-Krieg. Der Text enthält Bilder mit Leichensäcken, Blut und Leichenteilen – aber keine identifizierbaren Gesichter. Die entsprechenden Bilder müssen bewusst angeklickt werden. Bei manchen Menschen können diese Bilder negative Reaktionen, Flashbacks oder Traumata auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg müssen sich Medien mit der Frage auseinandersetzen: Darf man die Toten zeigen? Auch watson hat sich dieser Debatte gestellt.

Gräueltaten in den Kiewer Vororten

Als die ukrainischen Soldaten in die befreite Stadt Butscha nördlich von Kiew einrücken, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens. Leblose Körper mitten auf der Strasse, einigen von ihnen wurden die Hände auf den Rücken gefesselt. Alles Zivilisten. Die Gräueltaten lösten weltweit grosses Entsetzen aus.

Surprise
Ein Massengrab in Butscha.Bild: keystone

Seither steht Butscha sinnbildlich für die Kriegsverbrechen in den nördlichen Vororten der ukrainischen Hauptstadt, welche die dort rund 40'000 Mann starken russischen Truppen während der dreiwöchigen Besatzung begingen. Auch in anderen Kiewer Vororten wie Irpin, Hostomel und Borodjanka wurden zahlreiche getötete Zivilisten entdeckt.

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Ein Sarg mit einer unidentifizierten, zivilen Person, die in Butscha getötet wurde, wird auf dem Friedhof beigesetzt, 11. August 2022.Bild: keystone

Bis im August wurden nach ukrainischen Angaben alleine in Butscha 458 Leichen gefunden, 419 von ihnen trugen Anzeichen von Misshandlungen und wurden hingerichtet. Noch Tage nach dem russischen Truppenabzug tauchten in den Vororten Kiews weitere Massengräber und Folterkeller auf. Zudem wurden auch in Kanalisationen, Gräben und Brunnenschächten Leichen gefunden.

Zuletzt bestätigte die Beobachtungsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine (HRMMU), dass die Gräueltaten in den Vororten von Kiew als Kriegsverbrechen zu bezeichnen sind. Der Kommissionsvorsitzende Erik Møse sagte in Genf:

«Aufgrund der gesammelten Beweise kommt die Kommission zu dem Schluss, dass Kriegsverbrechen in der Ukraine begangen worden sind.»

Die Untersuchung der Menschenrechtsexperten konzentrierte sich vorerst auf die Anfangsphase der Invasion im Februar und März und auf die Regionen Kiew, Tschernihiw, Charkiw und Sumy. Bei Besuchen an diesen Kriegsschauplätzen fiel der Kommission eine hohe Zahl an Exekutionen auf. Opfer seien oft vor ihrem Tod festgenommen und gefesselt worden. Leichen wiesen Schusswunden in den Köpfen und aufgeschlitzte Kehlen auf.

Vor kurzem wurden zudem vom ukrainischen Geheimdienst abgehörte Telefonate von russischen Soldaten mit ihren Angehörigen veröffentlicht. Die desillusionierten Soldaten berichteten, vor allem aus den Vororten von Kiew, von willkürlichen Folterungen und Ermordungen von Zivilisten.

Laut HRMMU waren Verschwindenlassen und willkürliche Festnahmen in Gebieten durch russische Truppen oder prorussische Separatisten weit verbreitet. Auch Fälle von sexueller Gewalt und Vergewaltigungen wurden dokumentiert. Seit Beginn der russischen Invasion verzeichnete die Mission 6114 zivile Todesopfer, zusammen mit 9132 Verletzten (Stand 03. Oktober), wobei die tatsächlichen Zahlen viel höher sein dürften, da vollständige Informationen aus Konfliktgebieten kaum erhältlich sind.

Die Belagerung von Mariupol

Weitaus länger als die Besatzung der Vororte Kiews dauerte die Belagerung von Mariupol durch prorussische Streitkräfte. Bereits am 2. März brach in der ukrainischen Hafenstadt die Wasser- und Stromversorgung sowie jegliche Infrastruktur in Folge der grossflächigen Bombardierungen zusammen. Erst Mitte Mai ergaben sich die letzten Verteidiger der Stadt, die sich im Asow-Stahlwerk verschanzt hatten.

epa09896966 A frame grab from an undated handout drone video first published by DPR militia commander Alexander Khodakovsky and made available by the Mariupol City Council shows smoke rising from the  ...
Das Asow-Stahlwerk wird in den Monaten April und Mai fast pausenlos beschossen. Neben den verschanzten Kämpfern suchten hier auch Tausende Zivilisten Schutz.Bild: keystone

Gemäss örtlicher Behörden wurden alleine bis Anfang April Tausende Menschen getötet. Nicht nur starben sie im Bomben- und Granatenhagel, sondern laut dem World Food Programm der UNO auch an Unterernährung. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen bemerkte zudem, dass die Einwohnerinnen und Einwohner der heute zu rund 90 Prozent zerstörten Stadt auch in Folge fehlender medizinischer Versorgung starben.

Eine Evakuierung von Zivilisten sowie humanitäre Nothilfe in der Stadt selbst durch das IKRK wurde mehrfach verhindert. Unter anderem wurde im Juni ein Massengrab mit mutmasslich bis zu 20'000 Bewohnern der Stadt gefunden. Genaue Opferzahlen sind bis anhin nicht bekannt.

FILE - An explosion is seen in an apartment building after Russian's army tank fires in Mariupol, Ukraine, March 11, 2022. Six months ago, Russian President Vladimir Putin sent troops into Ukrain ...
Ein russisches Panzergeschoss trifft ein Wohnhaus in Mariupol im März. Die Belagerung der Stadt ist ebenfalls ein russisches Kriegsverbrechen.Bild: keystone

Die Europäische Union verurteilte das russische Vorgehen in der einst blühenden Hafenstadt als Kriegsverbrechen. Westliche Diplomaten sehen die Belagerung der Stadt als vergleichbar mit der Belagerung von Aleppo in Syrien, wo Hunderttausende starben. Um die Welt gingen die Bilder nach der Bombardierung des Theaters von Mariupol und einer Geburtsklinik, die unter anderem von der OSZE als Kriegsverbrechen eingestuft wurden.

Im Theater sollen zum Zeitpunkt der Bombardierung mindestens 1000 Zivilisten Deckung gesucht haben. Weiter deportierten die russischen Streitkräfte Tausende Zivilisten aus Mariupol nach Russland – gegen ihren Willen, ebenfalls ein Völkerrechtsbruch.

Der Umgang mit Kriegsgefangenen

Der vor kurzem veröffentlichte Bericht der Vereinten Nationen stellte auch fest, dass ukrainische Kriegsgefangene gefoltert oder grausam behandelt wurden. «Solche Misshandlungen scheinen systematisch zu sein, nicht nur nach ihrer Gefangennahme, sondern auch nach ihrer Überstellung an Orte der Internierung», sagte HRMMU-Chef Erik Møse. Das Bild des abgemagerten, vor kurzem während eines Gefangenenaustauschs freigekommenen, ukrainischen Asow-Kämpfers Mikhailo Dianov, ging um die Welt.

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Der ukrainische Asow-Kämpfer magerte in seiner Zeit in russischer Gefangenschaft massiv ab.Bild: AP Azov Special Forces Regiment

Die Misshandlung von Kriegsgefangenen verstösst gegen die Genfer Konventionen, wonach Kriegsgefangene den Anspruch auf Schutz haben. Bereits im Juli sorgte ein Schauprozess gegen Angehörige der ukrainischen Armee im russisch besetzten Donezk international für Aufsehen.

Verbrechen gegenüber Kriegsgefangenen werden indessen von beiden Seiten verübt. Auch einige russische Kriegsgefangene wurden von ukrainischen Streitkräften gefoltert und misshandelt. Bereits im April ging ein Video viral, dass die Hinrichtung russischer Soldaten – die sich im Zuge des Rückzugs aus der Region Kiew ergeben hatten – zeigt.

Foltergefängnisse und Beschuss von Zivilisten

450 namenlose Gräber wurden in einem Wald nahe der Anfang September befreiten Stadt Isjum im Oblast Charkiw gefunden. Hier haben die Untersuchungen erst begonnen, aber vieles deutet auf ähnlich brutale Massaker wie in den Vororten von Kiew hin. Viele der bisher exhumierten Leichen wiesen laut internationalen Beobachtern Folterspuren auf.

Diese haben die Getöteten wohl ebenfalls den russischen Besatzern zu verdanken. Laut dem ukrainischen Polizeichef Ihor Klimenko sind im ganzen befreiten Gebiet in der Oblast Charkiw bisher zehn Foltergefängnisse entdeckt worden. Sechs sollen sich in Isjum befinden, zwei in der ebenfalls befreiten Stadt Balaklija.

epa10199568 War crime prosecutor personnel during exhumation work on the cemetery in Izyum, Kharkiv region, Ukraine, 22 September 2022. The Ukrainian army pushed Russian troops from occupied territory ...
Die gefundenen Leichen im Wald bei Isjum werden exhumiert.Bild: keystone

Zeugenberichte bestätigen bereits den Foltervorwurf gegen die russischen Besatzer. Gleichzeitig sind die mit der Befreiung der Gebiete begonnenen und dokumentierten Säuberungen der ukrainischen Armee gegen Kollaborateure ebenfalls als Kriegsverbrechen zu werten.

Neben den weltweit beachteten Massakern von Butscha oder Irpin begingen die russischen Streitkräfte mit dem wiederholten Beschuss von zivilen Konvois oder zivilen Einrichtungen, wie zum Beispiel dem Markt von Slowjansk in der Ostukraine, ebenfalls diverse Kriegsverbrechen – deren Aufzählung ist nach mehr als sieben Monaten Krieg aufgrund ihrer hohen Zahl fast unmöglich. Zuletzt starben bei einem Raketenangriff auf einen zivilen Autokonvoi in der südukrainischen Stadt Saporischschja nach ukrainischen Angaben 30 Menschen.

epa10215323 A crater at the scene in Zaporizhzhia, Ukraine, 30 September 2022, where a convoy of civilians was struck by a Russian missile. At least 23 people have been killed and dozens more injured  ...
Bei einem Raketenangriff auf einen zivilen Konvoi bei Saporischschja starben nach ukrainischen Angaben 30 Menschen.Bild: keystone

Zuweilen werden auch ukrainische Städte wie Charkiw im Nordosten oder Mikolajew im Südwesten immer wieder Ziel von Raketenangriffen. Oft werden zivile Einrichtungen oder Wohnhäuser getroffen. Alleine im Monat September starben nach Angaben der UNO insgesamt 1222 ukrainische Zivilisten im Zusammenhang mit dem Krieg. Die meisten von ihnen durch Artillerie- oder Raketenbeschuss.

Wie viele russische Kriegsverbrechen noch ans Licht kommen werden, dürfte auch davon abhängen, inwieweit die ukrainischen Gegenoffensiven erfolgreich sind. Denn der bisherige Kriegsverlauf zeigt: Je mehr Gebiete von der ukrainischen Armee befreit werden, desto mehr Gräueltaten der Besatzer werden bekannt.

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66 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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HeidiW
05.10.2022 10:25registriert Juni 2018
Für mich ist bereits das Angreifen eines unabhängigen Staates, bereits ein Kriegsverbrechen.
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jon_caduff
05.10.2022 10:51registriert Dezember 2020
Wahrscheinlich bin ich mal wieder etwas pingelig, aber so etwas wie "mutmassliche Kriegsverbrechen" gibt es nicht. Es ist klar definiert, was ein Kriegsverbrechen ist und was nicht. Was anscheinend nicht klar ist, ist, ob und in welchem Umfang Russland Kriegsverbrechen begangen hat. Das müsste dann - meiner Meinung nach - wie folgt heissen: "Diese Kriegsverbrechen hat Russland mutmasslich begangen".
Ich persönlich halte die Sachlage für ausreichend dokumentiert, dass man hier problemlos das "mutmasslich" weglassen oder durch höchstwahrscheinlich ersetzen könnte.
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Magnum
05.10.2022 10:45registriert Februar 2015
Und mit diesem barbarischen Regime, das den Angriffskrieg losgetreten und in seinen Truppen Menschenverachtung zu einem Standard gemacht hat, soll die Ukraine zum Verhandeln gezwungen werden, "um weiteres Blutvergiessen zu vermeiden"? Während die Barbaren auf ukrainischem Boden weiter foltern und morden?

Nein, verhandelt wird erst, wenn kein russischer Soldat mehr auf ukrainischem Boden steht.
Und ja: Die Kriegsverbrechen müssen restlos aufgearbeitet und die Verantwortlichen bestraft werden. Denn Straflosigkeit führt zu Wiederholung.
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