Schon länger gibt es Berichte über Differenzen in der russischen Militärführung. Nun nahm Wladimir Putin am Mittwoch eine nächste Änderung in den höchsten Militärkreisen vor, die Spekulationsspielraum eröffnet. Er degradierte seinen bisherigen Oberbefehlshaber für die Operationen in der Ukraine, Sergej Surowikin. Den General hatte er erst im vergangenen Oktober neu in dieser Position eingesetzt. Er sollte eigentlich den grossen Umschwung zugunsten Russlands im Krieg einläuten.
Surowikin ist neu gemeinsam mit zwei anderen Militärs nur noch Stellvertreter von Valeri Gerassimow, dem Generalstabschef der russischen Armee, welcher nun für die Schachzüge im Krieg hauptverantwortlich ist.
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Der 56-jährige Surowikin geniesst einen objektiv betrachtet zweifelhaften, in russischen Militärkreisen jedoch hervorragenden Ruf. Er hatte sich unter anderem mit seiner skrupellosen, aber erfolgreichen Vorgehensweise im Syrien-Krieg bewährt, russische Medien verpassten ihm deshalb den Übernamen «General Armageddon».
Doch nachdem die russische Invasion auch nach der Ernennung Surowikins zum Oberbefehlshaber weiter stolpernd verlaufen war, wurden Zweifel laut. Insbesondere russische Militärblogger nahmen den General mehr und mehr ins Visier.
Noch stärker unter Beschuss steht allerdings Surowikins neuer Vorgesetzter, Valeri Gerassimow. Der 67-Jährige wird von verschiedenen Bloggern für das teilweise chaotisch wirkende Vorgehen der russischen Armee im Krieg verantwortlich gemacht.
Jüngst kursierte ein Video von Söldnern der Wagner-Gruppe, die Gerassimow aufgrund fehlender Unterstützung für ihre Einheiten scharf kritisierten und ihn mit Schimpfwörtern bedachten. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin stärkte seinen Soldaten anschliessend den Rücken und erneuerte damit die Hinweise auf gröbere Meinungsverschiedenheiten in Russlands militärischer Führung.
Die Begründung für die Rochade – und die Degradierung an sich – liest sich für Surowikin wie eine persönliche Niederlage. Tatsächlich musste der erfahrene General auch Rückschläge hinnehmen. So fallen unter anderem der Rückzug aus Cherson und der verheerende Angriff auf eine russische Kaserne mit mindestens 89 Toten in die Amtszeit von Surowikin. Nun will das russische Verteidigungsministerium mit der Rochade offiziell «die Effektivität des Militäreinsatzes steigern».
Doch einige Experten äussern Zweifel daran, dass es beim Wechsel tatsächlich um die Verbesserung der militärischen Schlagkraft geht. So schreibt Rob Lee vom US-amerikanischen Foreign Policy Research Institut in Philadelphia, er glaube nicht, dass Surowikin als gescheitert angesehen werde. Es sei gut möglich, dass es für die Degradierung politische Gründe gebe.
I don't think this is because Surovikin is viewed as a failure. Certainly possible that this was driven by political reasons. As the unified commander in Ukraine, Surovikin was becoming very powerful and was likely bypassing Shoigu/Gerasimov when talking to Putin.
— Rob Lee (@RALee85) January 11, 2023
Lee erklärt in dem Thread ausführlich, was er hinter diesen «politischen Gründen» vermutet. Es geht dabei vor allem um die Rolle von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin. Dieser versuche sich, als Gesicht der russischen Streitkräfte zu etablieren und inszeniere sich geschickt, beispielsweise indem er an der (vermeintlichen) Front auftauche, sich dort mit Soldaten ablichten lasse und auf deren Bedürfnisse eingehe.
Prigozhin is trying to make himself the public face of Russia's force, and he consistently puts out videos allegedly showing him near the front and seeing the hardships his fighters face. He has repeatedly criticized generals and MoD leaders who are doing the opposite. pic.twitter.com/GVGU0wqrPm
— Rob Lee (@RALee85) January 11, 2023
Auch den erbitterten Kampf um die Ortschaft Soledar versucht Prigoschin zu seinen Gunsten zu nutzen. Seine Wagner-Söldner spielen dort eine entscheidende Rolle. Prigoschin verkündete bereits frühzeitig, dass seine Einheiten die Ortschaft erobert hätten. Von ukrainischer Seite wird dem zwar widersprochen, doch sollte Soledar tatsächlich fallen, könnte Prigoschin diesen Sieg als Propaganda in eigener Sache nutzen und damit weiter an Ansehen und Einfluss gewinnen.
Und je mächtiger Prigoschin würde, desto eher könnte er sogar zur Gefahr für Wladimir Putin avancieren. «Prigoschin ist eine Bedrohung für Putin», sagt beispielsweise auch der ETH-Militärexperte Marcel Berni gegenüber dem Blick. Es ist also möglich, dass Putin mit der Umbesetzung seinem einstigen engen Vertrauten, der gelegentlich auch als «Putins Koch» bezeichnet wird, ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen möchte.
Dazu beförderte er den unpopulären Gerassimow zum Chef der Ukraine-Operation und gibt diesem die Möglichkeit, sich zum Gesicht allfälliger Erfolge im Krieg zu machen – was dem russischen Präsidenten wohl wesentlich besser gefallen würde, als wenn Jewgeni Prigoschin sich weiter als erfolgreicher Militär inszenieren könnte.
Offen bleibt hingegen die Frage, was passiert, wenn die Erfolge weiterhin nicht wie gewünscht eintreten.
Wagner-Söldner behaupten, dass die Erfolge in Soledar ausschliesslich von ihnen erreicht wurden, ohne jegliche Unterstützung der regulären russischen Armee. Das Verteidigungsministerium hingegen sagt, dass die Erfolge insbesondere durch Elite-Einheiten der russischen Armee erzielt worden wären...
Scheint zu brodeln in Russland :)