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Selenskyj ist der Hoffnungsträger einer attackierten Nation

Selenskyj ist der Hoffnungsträger einer attackierten Nation

Putins Truppen sind bis nach Kiew vorgedrungen. Ganz oben auf ihrer Liste: Präsident Wolodimir Selenskyj. Er weigert sich zu fliehen.
26.02.2022, 17:1127.02.2022, 12:23
Fabian Hock / schweiz am wochenende
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Ein paar Jahre ist es her, da turnte Wolodimir Selenskyj auf Kabarett-Bühnen durchs Land, veralberte die korrupte Politikerklasse und riss böse Witze über reiche Oligarchen im ukrainischen Fernsehen. Heute ist er der Präsident des Landes und, so sagt es die US-Regierung, das Hauptziel der Russen, die inzwischen bis nach Kiew vorgedrungen sind.

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Trotzdem denkt Selenskyj nicht an Flucht: Mit seiner Familie harrt er in der belagerten Hauptstadt Kiew aus. Und nutzt jede freie Minute, um aus einem Bunker seinen Landsleuten Mut zuzusprechen – und dem Westen ob dessen lascher Sanktionspolitik den Spiegel vorzuhalten. «Das Ziel dieser Attacke ist Druck», sagte Selenskyj am Freitagmorgen in einer Videobotschaft. «Druck auf Sie, liebe Bürger. Druck auf unsere Gesellschaft.» Anders, als sie behaupteten, machten die Russen keinen Unterschied zwischen militärischen Zielen und Wohnhäusern.

«Der Feind hat mich zum Ziel Nr. 1 erklärt»

Er selbst weiche nicht, machte Selenskyj klar. «Ich bleibe in der Hauptstadt, bleibe bei meinem Volk», rief der 44-jährige Staatschef, unrasiert und im grünen Sweatshirt, seinen Landsleuten zu. Dabei hätten es die Russen auf ihn abgesehen: «Nach unseren Informationen hat mich der Feind zum Ziel Nr. 1 erklärt, meine Familie zum Ziel Nr. 2.» Auf Hilfe von aussen, so die düstere Botschaft des Präsidenten, könne sein Land nicht hoffen. Mit 20 EU-Regierungschefs habe er gesprochen und gefragt, ob sie die Ukraine in die Nato aufnehmen wollen. Zugesagt habe keiner. Aus Angst. «Wir sind in der Verteidigung unseres Landes auf uns allein gestellt.»

Karte, Bombe, Russland, Ukraine, 25.02. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/krieg-ukraine-russland-news-liveblog
Russland greift zahlreiche Ziele in der Ukraine an. Bild: screenshot zeit.de

Für die Amerikaner ist Selenskyj das erklärte Ziel der russischen Armee, weil er «in vielerlei Hinsicht die demokratischen Bestrebungen und Ambitionen der Ukraine und des ukrainischen Volkes» repräsentiere. So erklärte es das Aussenministerium in Washington. Die US-Regierung habe ihm geraten, Kiew zu verlassen. Selenskyj bleibt.

Die Rolle, die der ukrainische Präsident während dieser dunkelsten Stunden des Landes in der jüngeren Zeit eingenommen hat, beeindruckt selbst hartgesottene Kritiker. «In diesen Tagen bin ich zum ersten Mal stolz auf meinen Präsidenten» – Nachrichten wie diese sind in den sozialen Medien derzeit immer wieder zu lesen. Der Mann, der seit seinem Amtsantritt 2019 scharf kritisiert wird, ist urplötzlich zum Hoffnungsträger einer attackierten Nation geworden.

Absehbar war das kaum. Berühmt geworden ist Selenskyj als Komiker, der – ausgerechnet – einen Präsidenten spielt. In die Politik ging er, um alte Strukturen aufzubrechen. Als er zum Präsidenten gewählt wurde, hat Selenskyj sein Amt mit dem Versprechen angetreten, die Macht der Oligarchen im Land einzudämmen. Für viele hat er dabei keine gute Arbeit geleistet.

Russische Bedrohung lange heruntergespielt

Auch die Bedrohung durch Russland habe er lange heruntergespielt, wurde immer wieder vorgebracht. Vor wenigen Tagen erst schrieb die ukrainische Journalistin Olga Rudenko in der «New York Times» vom Komiker, der zum Präsidenten wurde und nun, angesichts der 190'000 russischen Soldaten an der Grenze, «ernsthaft überfordert» sei.

In den Tagen danach bewahrte Selenskyj indes Ruhe, was ihm hoch angerechnet wurde. Je mehr über Wladimir Putins Angriffspläne durchsickert – etwa, dass die Invasion längst beschlossene Sache war, als vielerorts noch die Hoffnung auf Verhandlungen hochgehalten wurde –, desto klarer scheint: Selenskyj hätte überhaupt nichts tun können, um diesen von Putin lancierten Krieg abzuwenden.

Selenskyjs emotionaler Appell an die Russen

Dabei versuchte er es bis zuletzt. Nur Stunden, bevor die ersten Bomben fielen, wandte sich Selenskyj in einer dramatischen Rede an das russische Volk. In deren Sprache, die auch die seine ist – Selenskyj lernte erst nach ein paar Jahren Ukrainisch –, sagte er in einer Videoansprache: «Viele von Ihnen waren schon in der Ukraine. Viele von Ihnen haben Familie in der Ukraine. [...] Sie kennen unsere Art, Sie kennen die Menschen bei uns, Sie kennen unsere Prinzipien. Sie wissen, woran uns liegt. Hören Sie in sich hinein, hören Sie auf die Stimme der Vernunft, auf den gesunden Menschenverstand.» Es nützte nichts. Putin schickte seine Armee los, die inzwischen bis nach Kiew vorgedrungen ist.

«Wir wollen keinen Krieg», sagte Selenskyj noch. «Doch wenn wir von einer Armee angegriffen werden, wenn man versucht, unser Land zu rauben, unsere Freiheit, unser Leben, das Leben unserer Kinder, dann werden wir uns verteidigen.» Nicht angreifen, insistierte er. Verteidigen. «Wenn Sie angreifen, werden Sie unsere Gesichter sehen. Nicht unseren Rücken, unsere Gesichter.»

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64 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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StealthPanda
26.02.2022 19:14registriert September 2015
Dieser eine Mann hat mehr Rückgrat als die gesamte westliche Welt.
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why?
26.02.2022 19:32registriert Februar 2017
Ich muss sagen ich bin schwer Beeindruckt von ihm!
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Bitsundbites
26.02.2022 20:03registriert Juli 2019
Ein Leader welcher grössten Respekt verdient.

Und viele werden für ihn durchs Feuer gehen.....

Ukraine: Ihr könnt stolz sein auf einen solchen Präsidenten.
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