Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, als sich die erste Gruppe durch eine Lücke im Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko zwängt. Die meisten von ihnen: Chinesinnen und Chinesen. Einige von ihnen mit Rollkoffern, nach einem direkten Flug von China nach Mexiko, andere mit staubigen Rucksäcken, nach der Reise durch Lateinamerika.
Für das Team vom australischen Kanal CBS News, welches sich vier Tage lang direkt bei der Lücke positionierte, ein unerwarteter Anblick. Die Journalistinnen und Journalisten beobachteten über 600 Menschen – sowohl Erwachsene als auch Kinder –, wie sie die Lücke unkontrolliert überquerten. Reporterin Sharyn Alfonsi sprach, teilweise mithilfe eines Übersetzers, mit einigen der Migrantinnen und Migranten.
So etwa mit einem Chinesen mit Collegeabschluss, der sich Arbeit in Los Angeles erhofft. Seine Reise von China in die USA habe 40 Tage gedauert und über Thailand, Marokko, Ecuador, Kolumbien, Panama, Costa Rica und Nicaragua geführt, berichtet er.
Die meisten von ihnen hatten Kontakt mit Schmugglern in Tijuana, Mexiko. 400 Dollar mussten sie pro Person für die einstündige Fahrt bis zur Lücke bezahlen. Nur ein Bruchteil einer viel teureren Reise: Eine Fabrikarbeiterin erzählt gegenüber CBS, sie habe ihr Haus verkauft, um die 14'000 Dollar für die Reise in die USA bezahlen zu können.
Sie ist nicht die Einzige, welche diese teure Reise ins Ungewisse wagt: Nach Angaben der US-Zoll- und Grenzschutzbehörde sind im vergangenen Jahr 37'000 chinesische Staatsbürger bei der illegalen Einreise von Mexiko in die USA aufgegriffen worden. Das sind 50 Mal mehr als noch zwei Jahre zuvor.
Als Gründe nennen die Migrantinnen und Migranten das zunehmende repressive politische Klima sowie die schleppende Wirtschaft in China. Insbesondere der Covid-Lockdown, der in China extrem lange dauerte, hat Spuren hinterlassen. Eine 37-jährige Frau erzählt, dass sie ihr Kinderbetreuungsgeschäft habe aufgeben müssen. Für ihre Reise in die USA hat sie aber noch mehr zurückgelassen: ihre zwei kleinen Kinder. Diese habe sie bei ihrer Familie zu Hause gelassen.
Es gebe viele Gründe, warum sie sich entschieden habe, in die USA zu reisen, sagt sie. Nicht nur die Arbeit, sondern hauptsächlich Freiheit.
Die meisten der Migrantinnen und Migranten haben über die sozialen Medien von dieser spezifischen Lücke im Zaun erfahren. Konkret: auf TikTok. Dort finden sich Schritt-für-Schritt-Anleitungen, wie man einen Schmuggler organisiert und die Lücke findet. Nach der Lücke gehen die Migrantinnen und Migranten etwa 800 Meter einer unbefestigten Strasse entlang, bevor sie in einer Reihe auf die Ankunft der US-Grenzpatrouille warten. Dort ergeben sie sich.
Die Umgebung sieht aus wie eine unordentliche Mondlandschaft. Übersät mit Müll und Zelten, die zurückgelassen worden seien, schreibt CBS News. Jerry Shuster regt sich schon seit Monaten darüber auf. Dem 75-jährigen pensionierten Mann gehört dieses Land. Er wettert:
Begonnen habe es im Mai, als er auf seinem Grundstück habe Rauch aufsteigen sehen. Als er nachschauen gegangen sei, habe er Migrantinnen und Migranten entdeckt, die seine Bäume angezündet hätten, um sich warmzuhalten. Vor vier Monaten sei dies erneut passiert. Er habe die Menschen gebeten, seine Bäume nicht anzuzünden. Als sie ihn umzingelt hätten, sei er nach Hause gegangen, habe seine Schusswaffe geholt und in die Luft geschossen. Daraufhin sei er festgenommen und seine Waffe konfisziert worden.
Er selbst sei ein Immigrant aus Jugoslawien. Doch er habe keine Türe eingetreten, um in die USA zu gelangen. Er sei durch den Haupteingang gekommen. Nicht so die Migrantinnen und Migranten auf seinem Grundstück. Teilweise sehe er 3000 Menschen, die sein Grundstück überqueren – pro Woche.
Zwei Stunden nachdem die Migrantinnen und Migranten angekommen waren, sei die Grenzpatrouille vorgefahren, berichtet CBS weiter über die Lage vor Ort. Anweisungen seien direkt auf Mandarin per Lautsprecher übertragen worden.
Von Shusters Grundstück werden sie zu einem Untersuchungsgefängnis in der Nähe von San Diego gefahren, wo sie überprüft werden. Üblicherweise können sie das Gefängnis innert 72 Stunden verlassen und in den USA einen Asylantrag stellen.
Während Jahren konnten Millionen von Chinesinnen und Chinesen mit einem Visum in die USA einreisen, das es ihnen erlaubte, dort zu studieren, zu arbeiten oder zu reisen. Aufgrund der steigenden Spannungen zwischen China und den USA werden diese allerdings immer seltener ausgestellt, wird berichtet.
Wie CBS schreibt, haben die USA 2016 für chinesische Staatsbürger 2,2 Millionen temporäre Visa ausgestellt. 2022 waren es nur noch 160'000.
Und so greifen viele Chinesinnen und Chinesen auf die letzte Option zurück: das illegale Überqueren der Grenze. Eigentlich gibt es offizielle Einreisepunkte entlang der Grenze, doch die Wartezeit, bis man dort einen Termin bekommt, beträgt zwischen drei und vier Monaten. Die Durchquerung der Lücke – dank genauer TikTok-Anweisungen – scheint deshalb vielen der einfachere Weg ins gelobte Land zu sein.
Ob denn Shuster nie gemeldet habe, dass sich eine Lücke im Zaun befinde, wollte CBS News von dem Mann wissen. Die Behörden wüssten schon davon, sagt er. Er solle Washington D.C. anrufen, habe es geheissen.
Das hat CBS News getan. Die US-Zoll- und Grenzschutzbehörde erklärte ihnen, dass ihre Beamten nicht befugt seien, Menschen am Passieren der Lücke zu hindern. Sie können die Migrantinnen und Migrantinnen erst festnehmen, nachdem sie illegal eingereist sind. Das Schliessen der Lücke hingegen ist theoretisch möglich. Die Massnahme befände sich an der Spitze ihrer Prioritätenliste. Was noch fehle, sei Geld vom Kongress.
Man könnte deshalb durchaus von einer 5. Kolonne sprechen, die da durch den Zaun strömt.