2022 war ein schlechtes Jahr für die grösste und effektivste Lobbygruppe in den USA – ein sehr schlechtes. Die National Rifle Association (NRA, «Nationale Gewehr-Vereinigung») erlebte im vergangenen Jahr deutliche Rückgänge in so ziemlich jeder relevanten Grösse: Mitglieder, Einnahmen, Vermögen, Lobbying und politische Ausgaben.
Das zeigt ein Blick in die neusten Steuerunterlagen der NRA, die dem Online-Portal «Daily Beast» vorliegen. Demnach sind ihre Mitgliederzahlen seit 2016 um fast 60 Prozent eingebrochen, ihre Einnahmen um über 50 Prozent. Die Waffenlobby befindet sich damit in einer regelrechten Abwärtsspirale:
Bis in die 60er-Jahre war die Waffenlobby zunächst nur eine Art Jägerklub, der sich auf Themen wie Waffen- oder auch Treffsicherheit fokussierte. Das änderte sich, als 1968 der Gun Control Act in Kraft trat – eine Regulierung mit dem Ziel, den Waffenverkauf einzuschränken. Radikale Mitglieder der NRA fürchteten weitergehende Gesetze und begannen, sich auch innerhalb der Vereinigung durchzusetzen. Die NRA wurde damit zu einer immer mächtigeren Lobby mit zwei Zielen: den Verkauf von Waffen zu fördern sowie Gesetzesverschärfungen zu bekämpfen. Die Waffenbefürworter – meistens Republikaner – werden dabei grosszügig unterstützt und ihre Gegner gleichzeitig mit aggressiven Kampagnen eingedeckt.
Das Wachstum der NRA kulminierte in den Jahren, in denen Donald Trump auf die Politbühne trat und sie ihren Höhepunkt erlebte: Einnahmen von über 450 Millionen Dollar, einen Umsatz von 367 Millionen im Jahr 2016 und einen Mitgliederrekord von 6 Millionen Menschen 2018. Eine der Folgen: Kein Land besitzt heute so viele Schusswaffen pro Kopf wie die USA.
Doch nun der grosse Einbruch bei der NRA. Dass die US-Waffenlobby Probleme hat, ist dabei schon länger bekannt. «Die NRA ist auf die Einnahmen von Mitgliedern angewiesen, und sie scheint Mitglieder zu verlieren», sagte der US-Amerikaner Frank Smyth, der ein Buch über die Waffenlobby geschrieben hat, bereits vor einem Jahr. «Sie tun ihr Bestes, um das zu vertuschen.» Es sei aber ein Trend, der sich fortsetzen wird, so Smyth.
Die Abwärtsspirale der NRA fällt allerdings in eine Zeit, von der die Waffenlobby eigentlich profitieren sollte.
Wie eine neue Studie nämlich zeigen konnte, steigen die Einnahmen der Waffenlobby in Counties (Bezirken in den USA), in welchen sich in den Jahren zuvor Schiessereien an Schulen ereigneten. Und diese haben – ebenso wie generell Schiessereien im Lande – in den letzten Jahren zugenommen.
Die Studie der Universität Oxford hat die Spenden für die NRA neu untersucht. Dafür verglichen die Autoren Counties, in denen sich eine Schulschiesserei ereignete, mit denjenigen ohne ein solches Ereignis. Das Ergebnis: Die Spenden an das politische Aktionskomitee der NRA, den Political Victory Fund, stiegen in den betroffenen Bezirken in den vier Jahren nach einer Schulschiesserei um durchschnittlich fast tausend Dollar pro Jahr an. Die Anzahl individueller Menschen, die spendeten, stieg ebenfalls.
Interessanterweise kam eine ähnliche Studie aus dem Jahr 2021 zu einem anscheinend widersprüchlichen Resultat: In Bezirken, in denen sich eine Schulschiesserei mit mehreren Opfern ereignete, steigt auch die Unterstützung für Demokratinnen und Demokraten. Diese unterstützen zuallermeist Verschärfungen des Waffenrechts.
Eine Autorin dieser Studie, Laura García-Montoya, erklärt sich die neuen Resultate damit, dass es zwei gleichzeitig auftretende Effekte an beiden Enden des politischen Spektrums sind. «Menschen, die Waffenrechte unterstützen, fühlen sich eben auch durch Schiessereien in Schulen bedroht und haben deshalb das Bedürfnis, ihrer Interessengruppe zu helfen», so García-Montoya.
Seit 2018, als es der NRA noch hervorragend zu gehen schien, sind nicht nur Schulschiessereien, sondern auch Massenschiessereien – also Ereignisse, bei denen vier Menschen oder mehr getötet oder verletzt werden – generell stark angestiegen. Lag die Zahl in den Jahren vor 2019 stets unter 400, so waren es ab dem ersten Pandemiejahr 2020 in jedem Jahr mehr als 600. Auch 2023 zählt bereits über 650 solche Ereignisse.
Eigentlich müsste das also der NRA zu volleren Geldbeuteln verhelfen?
Fakt ist: Im gleichen Zeitraum, in dem die Waffenlobby ihren Einfluss zu verlieren beginnt, schiesst die Schusswaffengewalt paradoxerweise in die Höhe.
Einerseits könnte der Niedergang der NRA als Folge ihres eigenen «Erfolgs» gesehen werden, schreibt das Online-Portal «Daily Beast», das die Steuerunterlagen auswertete. Ihre gigantischen Lobbying-Bemühungen bis Mitte der 2010er-Jahre habe die nationale Debatte über strengere Waffengesetze erfolgreich eingefroren – und damit den Nutzen der Interessengruppe verringert. Doch das scheint sich in jüngster Zeit zu ändern.
Im Jahr 2022 stellten sich 15 Republikaner-Senatoren gegen die NRA und ermöglichten so das erste sinnvolle Waffenkontrollpaket seit Jahrzehnten. Das könnte ein Zeichen für den Niedergang der NRA sein – es könnte aber auch als Reaktion auf den Anstieg der Waffengewalt interpretiert werden. Und dieser wiederum gründet auf den laxen Waffengesetzen, welche die NRA in dieser Zeit durchgesetzt hat.
Die Frage von Ursache und Wirkung ist also nicht so leicht zu beantworten. Hinzu kommt aber, und das dürfte derzeit das grösste Problem der Lobbygruppe sein, dass es sich die NRA mit ziemlich vielen Unterstützern schlicht und einfach verscherzt hat.
Denn dem Rekordtief an Mitgliederzahlen steht gleichzeitig ein Rekordhoch an Ausgaben gegenüber, insbesondere an Ausgaben für Rechtsstreitigkeiten. Zusammen mit den tiefen Einnahmen ergab dies für die NRA einen Nettoverlust von 22 Millionen Dollar im letzten Jahr.
Seit einigen Jahren häufen sich die Skandale und Anzeichen für illegale Handlungen bei der US-Waffenlobby, in deren Zentrum vor allem ihr umstrittener CEO, Wayne LaPierre, steht. So hat LaPierre Mitgliedsbeiträge missbraucht, indem er über 10 Jahre hinweg fast 300'000 Dollar für Designerkleidung ausgegeben und der NRA Luxusreisen mit Privatjets auf die Bahamas, nach Budapest und Italien in Rechnung gestellt hat. Hinzu kamen «professionelles Make-up und Hairstylisten» für seine Ehefrau.
2020 reichte die New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James eine Klage gegen die NRA ein: LaPierre und andere hätten das Vermögen der NRA zu ihrem eigenen Vorteil geplündert und damit als Verein gegen das Gemeinnützigkeitsrecht verstossen.
2021 reichte die NRA, die gegenüber ihren grössten Gläubigern grosse Schulden zurückzuzahlen hat, einen Insolvenzantrag ein. Das Ziel: den Rechtssitz von New York nach Texas zu verlegen und sich als Non-Profit-Organisation neu zu strukturieren. Doch daraus wurde nichts, einige Monate später lehnte ein Insolvenzgericht den Antrag auf Gläubigerschutz ab. Die NRA habe diesen nur gestellt, um ein Verfahren der Generalstaatsanwältin des Bundesstaats New York zu vermeiden, so der Richter. Und das sei nicht im Sinne des Insolvenzrechts.
Mit diesem Verhalten hat die NRA die Sympathien eines grossen Teils ihrer Unterstützer verloren. Die NRA würde ihren Niedergang unter der derzeitigen Führung, welche die volle Unterstützung des Vorstands habe, besiegeln, sagt Phil Journey, ein dissidentes NRA-Vorstandsmitglied. «Es gibt keine korrigierenden Massnahmen» innerhalb der NRA, so Journey.
Das heisst allerdings nicht, dass Amerikanerinnen und Amerikaner weniger Waffen kaufen. Zwar sinkt der Waffenbesitz in den USA leicht, aber kontinuierlich, seit den 70er-Jahren. Seit 2018 allerdings findet wieder ein Aufwärtstrend statt. Die Leute kaufen also wieder etwas mehr Schusswaffen – «aber diese neuen Waffenbesitzer treten nicht mehr der NRA bei», sagt das ehemalige Vorstandsmitglied.
Gleichzeitig steigt aber das Bewusstsein und die Unterstützung für schärfere Waffengesetze. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Organisationen, die sich für Waffenkontrolle einsetzen, an Zugkraft und Spenden gewinnen – wenn auch auf deutlich tieferem Niveau als die NRA. Ein führendes Mitglied von Giffords, einer der grössten Anti-Schusswaffen-Organisationen, sagt es so: «Sachkundige Beobachter auf beiden Seiten der Waffendebatte wissen, dass die Waffensicherheitsbewegung exponentiell wächst, während die NRA unter schrumpfenden Mitgliederzahlen und schrumpfenden Bankkonten leidet.»
Die finanzielle Macht der Anti-Waffenlobby ist zwar nach wie vor ein Zwerg im Vergleich zur NRA: 2021 standen knapp 3 Millionen Dollar Ausgaben für politische Zwecke den gut 16 Millionen der NRA gegenüber. Doch in Zeiten der Schwäche des Lobby-Giganten stehen die Chancen wohl so gut wie noch nie, endlich griffigere Gesetze durchzuringen.