Eigentlich wollte Indien in die Bresche springen. Im April kündigte Präsident Ram Nath Kovind an, sein Land werde rund zehn Millionen Tonnen Weizen auf dem Weltmarkt anbieten und so die Versorgungslücke teilweise decken, die mit dem Angriff auf die Ukraine – und damit auch auf die Kornkammer Europas – entstanden ist. «Wir haben viel Weizen, er wächst überall», sagte ein indischer Weizenproduzent gegenüber «Euronews».
Indien schien bereit.
Tatsächlich produziert Indien nach China weltweit am meisten Weizen – rund 100 Millionen Tonnen pro Jahr. Doch der Getreideproduzent hat bislang kaum etwas davon exportiert.
Das Land hat zwar in den letzten Jahren die Selbstversorgung in der Getreideproduktion erreicht, doch die Ernährungssicherheit in Indien ist dadurch noch lange nicht gewährleistet.
Trotzdem sollte Indien nach dem Angriffskrieg auf die «Kornkammer Europas» insbesondere den Hauptabnehmern des ukrainischen Weizens helfen, etwa Ägypten, Jemen und Somalia.
Denn Kämpfe und Blockaden in der Ukraine sowie zerstörte Getreidesilos rund ums Schwarze Meer haben den Transport des Getreides unterbrochen, was dazu führte, dass der Weizen auf dem Weltmarkt knapp und teuer wurde. Rund 25 Millionen Tonnen stehen in der Ukraine für den Export bereit. Man versuche, sie in LKWs und Zügen ins Ausland zu transportieren, teilte Deutschlands Wirtschaftsminister Cem Özdemir am Samstag mit. Doch dies deckt bei Weitem nicht die grosse Nachfrage des Weizens. Mit Eisenbahnen kann man schlicht nicht so viel Getreide liefern wie mit Frachtschiffen.
Nach der Ankündigung des indischen Präsidenten, die Welt mit rund 10 Millionen Tonnen Getreide zu versorgen, setzten sich mehrere Länder auf die Bestellliste, darunter Serbien, Herzegowina, Iran, Sudan und die Türkei – allen voran aber Ägypten, der weltweit grösste Importeur von ukrainischem und russischem Weizen. Das Land der Pharaonen verfügt über wenig Anbaufläche und ist besonders vom Weizenimport abhängig. Weil man sich um die Versorgung der Bevölkerung sorgt, kündigte Kairo Ende März an, in Zukunft mehr Weizen anzubauen.
Bis dahin wollte das Land Indien zu seinem neuen grössten Importeur machen – und sich vorerst einmal mit rund einer Million Tonne indischem Weizen eindecken.
Doch dann funkte die Natur dazwischen. Indien erreichte eine ungewöhnlich frühe Hitzewelle mit Temperaturrekorden von bis 50 Grad Celsius und schürte in dem Riesenland grosse Sorgen vor einer Missernte. Die prognostizierten 111 Megatonnen für das im Juni endende Erntejahr wurden von der indischen Regierung auf 105 Megatonnen gesenkt. Und: Die Hitzewelle dauert noch immer an.
Nicht nur die Hitze macht Indien derzeit zu schaffen, sondern auch eine hohe Inflation. Aus diesem Grund erliess die indische Regierung am Samstag ein Ausfuhrverbot des Getreides mit sofortiger Wirkung. Begründet wurde der Entscheid mit der unsicheren Ernährungslage im Land. Im öffentlichen Schreiben heisst es, der sprunghafte Anstieg des weltweiten Weizenpreises sowie die Auswirkungen der Hitzewelle bedrohe die Ernährungssicherheit Indiens.
Mit dem Exportverbot wolle man Preissteigerungen im eigenen Land nun wieder eindämmen, welche in den vergangenen Wochen in die Höhe geschnellt sind. Bislang hatten die Weizenbauern kein Interesse daran, ihr Getreide zu exportieren, da sie von der Regierung so stark subventioniert werden, dass sich der Weltmarkt für die Bauern nicht lohnt. Doch wegen der weltweit gestiegenen Preise zahlen Exporteure den Bauern aktuell viel mehr als die Regierung.
Der Preisanstieg machte sich auch im Land bemerkbar. Der Weizenpreis stieg um 20 bis 40 Prozent, wie das Handelsministerium am Samstag mitteilte. Dies gefährde die Nahrungssicherheit in Indien. «Wir wollen nicht, dass Weizen unreguliert verkauft wird und dann entweder gehortet oder nicht in dem von uns erhofften Sinne genutzt wird», teilte der Handelsminister BVR Subrahmanyam am Samstag mit.
Damit wird auch Indien die Lücke, welche der Ukraine-Krieg verursacht hat, nicht füllen können. Man werde einigen Verpflichtungen aber dennoch nachkommen. Länder in grosser Not werde man noch beliefern, die Ausfuhr weiterer Mengen werde aber gestoppt.
Der Weizenpreis auf dem Weltmarkt dürfte nun weiter in die Höhe schnellen. Für andere Länder, die unter der Versorgungslücke leiden, bedeutet dies eine Katastrophe – zusätzlich zu einer Katastrophe. Bereits die Corona-Pandemie, die Auswirkungen extremer Wetterereignisse sowie der Ukraine-Krieg haben den Welthunger weiter verschlimmert. Bis zu 50 Millionen Menschen in Afrika sowie im Nahen Osten seien durch den Krieg zusätzlich von Hunger bedroht, warnte die Bundesaussenministerin Annalena Baerbock am Samstag.
Vor diesem Hintergrund appellierten die Agrarministerinnen und -minister der G7-Staaten, das Ausfuhrverbot zu überdenken. «Wir haben alle miteinander – gerade die grossen Exportnationen – eine Verantwortung für den Rest der Welt», kritisiert Cem Özdemir, Deutschlands Landwirtschaftsminister. Der Grüne-Politiker fordert, dass die Märkte offen gehalten werden.
Die Hilfsorganisation Brot für alle kann Indiens Exportverbot nachvollziehen. «Es sei gerechtfertigt, dass die indische Regierung Hunger dadurch im eigenen Land verhindern wolle», sagte der Welternährungsreferent Francisco Mari zur Tageszeitung «TAZ».
Für die Kritik an Indien hat er kein Verständnis: «Die G7-Staaten sollen schauen, dass sie ihren Weizenverbrauch reduzieren können, statt Indien zu kritisieren, das wegen einer vom Klimawandel verursachten Hitzewelle in Bedrängnis gerät», so Mari.
In einigen europäischen Staaten lande der Weizen nicht nur auf dem Teller, sondern im Tank oder im Tierfuttertrog. «Wenn Millionen Menschen hungern, ist es nicht vertretbar, dass in den reichen Ländern wertvolle Lebensmittel in Verbrennungsmotoren verheizt werden.»
Mari hat einen Vorschlag, wie man den Weizenpreis senken könnte: «Die G7 sollten noch einmal darauf hinweisen, dass Russland trotz der Sanktionen weiter Getreide exportieren darf. Solche Signale an die Märkte könnten die Preise senken».
Die Ukraine bittet derweil andere Staaten, Lieferungen aus Russland nicht anzunehmen. Russland hingegen hat bereits eine andere Lösung gefunden, um den Weizen in den Nahen Osten zu bringen: Satellitenbilder des Unternehmens Planet Labs zeigen, wie russische Frachter Weizen nach Syrien liefern. Laut ukrainischem Geheimdienst handle es sich um Weizen aus der Ukraine, der von Syrien aus in andere Länder des Mittleren Ostens geschmuggelt werde. Das Satellitenbild wurde von der Nachrichtenagentur AP verifiziert.
Gerade weil viele Länder eine Hungerkrise fürchten, dürften die Märkte laut Özdemir nicht geschlossen werden: «Wir müssen dafür sorgen, dass das Getreide, das verfügbar ist, fair zugänglich wird und dies zu bezahlbaren Preisen».