Was trieb den russischen Präsidenten Wladimir Putin vor gut einem Jahr dazu, den Angriff auf die Ukraine zu befehlen? Aufschlussreich ist dazu seine Rede kurz vor der Invasion, in der er es als «Wahnsinn» bezeichnete, dass den nationalen Republiken wie der Ukraine oder den baltischen Staaten der Austritt aus dem russischen Imperium erlaubt worden sei. Bekannt ist auch seine Ansicht, der Zerfall der Sowjetunion sei die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen.
Diese Sowjetunion hat einst vorexerziert, was Putin wohl vorschwebt: die Rückgewinnung verlorener Gebiete. Dazu ein Longread.
1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, beherrschte das Russische Kaiserreich weite Teile des östlichen Europas: Von Finnland im Norden, das als Grossfürstentum weitgehende Autonomie besass, über das Baltikum und den grössten Teil Polens bis zu Bessarabien im Süden – das fast deckungsgleich mit der heutigen Republik Moldau ist – erstreckte sich ein Gürtel von nicht-russischen Gebieten.
Dieser Gürtel ging mit dem Untergang des Russischen Kaiserreiches verloren. Die Macht Lenins und seiner Bolschewiki, die den Zar beerbt hatten, war noch nicht gefestigt. Sie mussten daher den Mittelmächten 1918 im Friedensvertrag von Brest-Litowsk enorme territoriale Zugeständnisse machen. Nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte entstanden in diesem Gebiet neue Staaten wie Finnland oder die baltischen Republiken, und das 1795 von der Landkarte getilgte Polen erlangte seine Unabhängigkeit wieder.
Sowjetrussland, das im Russischen Bürgerkrieg von den Weissen Garden hart bedrängt wurde, versuchte zwar, diese Gebiete zurückzuerobern, konnte jedoch lediglich die östlichen Teile der kurzlebigen Staaten Belarus und Ukraine dauerhaft unter seine Kontrolle bringen (die westlichen gelangten unter polnische Herrschaft). Als 1922 die Sowjetunion gegründet wurde, verlief ihre Westgrenze nahezu überall östlich der ehemaligen Grenze des Russischen Reiches. Moskau fand sich nicht wirklich mit dieser Situation ab, auch wenn es schliesslich Friedensverträge mit den neuen Staaten abschloss. Man betrachtete sie als rebellierende russische Provinzen, die dereinst zurückgewonnen werden sollten.
Gelegenheit dazu bot die Expansionspolitik Adolf Hitlers, die ebenfalls eine Revision der territorialen Verhältnisse in diesem Raum anstrebte. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938 richtete sich Hitlers Augenmerk auf Polen. Bis zur Besetzung der «Rest-Tschechei» im Frühjahr 1939, die ein eindeutiger Bruch des Münchner Abkommens war, hatten Grossbritannien und Frankreich die aggressive Annexionspolitik Nazi-Deutschlands geduldet, vornehmlich aus Furcht vor der Sowjetunion. Da sich aber Deutschland als die grössere Gefahr erwies, suchten die Westmächte nun eine «Grosse Allianz» mit Moskau.
Doch diese Bestrebungen wurden am 24. August 1939 schlagartig Makulatur. An diesem Tag unterzeichneten der deutsche Aussenminister Joachim von Ribbentrop und sein sowjetischer Amtskollege Wjatscheslaw Molotow in Moskau nach monatelangen Geheimgesprächen den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der auch als «Hitler-Stalin-Pakt» bekannt ist. Diese Allianz zwischen den Nazis und den Bolschewiki, die doch erklärte ideologische Feinde waren, kam für die Westmächte überraschend. Und sie machte Hitler den Weg frei für den geplanten Angriff auf Polen, der am 1. September begann und die Kriegserklärung der Westmächte an das Deutsche Reich auslöste.
Sowohl Hitler wie Stalin war klar, dass der Pakt nicht lange halten würde. Hitlers Ziel war nach wie vor die Gewinnung von «Lebensraum im Osten», was die Zerschlagung der Sowjetunion voraussetzte; Stalin misstraute Hitler und den Westmächten gleichermassen. Der Pakt verschaffte ihm Zeit, die notwendig war, um die durch die Säuberungen der Armeespitze während der «Jeschowschtschina» geschwächte Rote Armee zu konsolidieren.
Vor allem aber zog Stalin Nutzen aus dem geheimen Zusatzprotokoll des Paktes, das die Interessensphären Deutschlands und der Sowjetunion in Osteuropa abgrenzte. Das völkerrechtswidrige Dokument wurde erst nach dem Krieg bekannt; im Ostblock bestritt man seine Existenz bis 1989. Es ermöglichte Stalin die Wiedergewinnung fast aller Gebiete, die das Russische Kaiserreich verloren hatte. Deren Besetzung verschaffte der Sowjetunion ein vorgeschobenes Glacis, das beim deutschen Angriff 1941 wie ein Puffer wirkte und zuerst von der Wehrmacht erobert werden musste. Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass es den deutschen Truppen nicht gelang, Moskau einzunehmen.
Das geheime Zusatzprotokoll schlug der Sowjetunion folgende Gebiete zu: Finnland, Estland, Lettland, Ost- und Zentralpolen und Bessarabien. Litauen hingegen gehörte zunächst neben Westpolen zur deutschen Sphäre. Erst am 28. September – als die Wehrmacht den polnischen Widerstand bereits weitgehend gebrochen hatte und sowjetische Truppen in Ostpolen einmarschiert waren – kam es im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag zu einem Tausch: Litauen, erweitert um das bisher polnische Gebiet um Wilna, wurde nun der sowjetischen Sphäre zugeschlagen, während das ohnehin schon deutsch besetzte Zentralpolen zur deutschen Sphäre kam.
Die Besetzung der in der sowjetischen Interessensphäre gelegenen Staaten und Gebiete – oder der Versuch dazu – spielte sich wie folgt ab:
Am 17. September 1939, 16 Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen, marschierte auch die Rote Armee im westlichen Nachbarland ein. Knapp 470'000 Mann, unterstützt von 3739 Panzern und rund 2000 Flugzeugen, fielen über das Land her, dessen Truppen gerade von der Wehrmacht aufgerieben wurden. Warschau war bereits von den Deutschen eingekesselt; immerhin hielten sich noch Grossstädte wie Lublin oder Lemberg (Lwiw). Doch der russische Dolchstoss besiegelte das Schicksal Polens: «Als ich sah, dass von Westen die Deutschen und von Osten her die Russen anrückten, dachte ich mir, das ist dann wohl unser Ende», erinnerte sich später ein Zeitzeuge.
Die sowjetischen Truppen stiessen kaum auf Widerstand, am 6. Oktober kapitulierten die letzten regulären polnischen Einheiten. Bereits am 22. September hatte in Brest-Litowsk, an der Demarkationslinie zwischen deutscher und sowjetischer Zone, die erste gemeinsame Militärparade stattgefunden, und Wehrmacht und Rote Armee tauschten Hakenkreuz und Rote Fahne aus. Mit der Teilung verlor Polen erneut seine Staatlichkeit; die unabhängige Zweite Polnische Republik hörte auf zu existieren.
Die Sowjetunion gewann ein Gebiet von mehr als 200'000 km2, mehr als die Hälfte des gesamten polnischen Staates. Es wurde – bis auf das Gebiet um Wilna, das Litauen erhielt – an die belarussische und die ukrainische Sowjetrepublik angeschlossen. Die polnischsprachige Bevölkerung stellte im annektierten Gebiet lediglich die grösste Minderheit dar; nur wenig kleiner war die Zahl der Ukrainer. Weitere namhafte Minderheiten waren Belarussen und Juden.
Stalin hatte die Besetzung damit gerechtfertigt, die in Polen lebenden Ukrainer und Belarussen müssten vor dem deutschen Einmarsch geschützt werden. Die sowjetischen Truppen verübten allerdings zahlreiche Kriegsverbrechen an polnischen Kriegsgefangenen und Zivilisten. In den ersten Wochen kam es zudem zu Plünderungen und Morden an Polen, die durch Ukrainer und Belarussen sowie durch sowjetische Soldaten begangen wurden.
Ähnlich wie die deutschen Besatzer dezimierten die Sowjets besonders die polnische Führungsschicht, um eine Renaissance des polnischen Staates zu erschweren. Das grausamste Beispiel dafür ist wohl die Massenerschiessung von 22'000 bis 25'000 Offizieren, Polizisten und Intellektuellen im Frühjahr 1940, die als «Massaker von Katyn» – nach dem Ort, an dem eine der grösseren dieser Mordaktionen stattfand – bekannt geworden ist.
Doch die Repression traf nicht nur die polnische Vorkriegselite: In den zwei Jahren bis zum deutschen Einmarsch im Juni 1941 wurden in Ostpolen insgesamt etwa 110'000 Menschen verhaftet. Tausende von ihnen wurden erschossen. Im Zuge von vier Massendeportationen wurden im selben Zeitraum etwa 330'000 Menschen nach Sibirien oder Zentralasien verschleppt. Nur etwa die Hälfte von ihnen dürfte überlebt haben.
Die Annexion der polnischen Ostgebiete blieb dauerhaft: Nachdem sie zeitweilig während des Russlandfeldzugs durch die Wehrmacht kontrolliert wurden, eroberte sie die Rote Armee 1944 zurück. Die restliche polnische Bevölkerung wurde zum grössten Teil vertrieben und in den ehemals deutschen Ostgebieten angesiedelt – Polen wurde nach Westen verschoben.
Die Idee der Eigenstaatlichkeit konnte sich in den baltischen Staaten erst durchsetzen, als die Bolschewiki in Russland die Macht übernahmen; zuvor galt die Autonomie in einem demokratischen Russland als erstrebenswert. 1918 erklärten alle drei Staaten ihre Unabhängigkeit. Anders als Polen, das im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921 die Rote Armee zeitweise weit nach Osten zurückdrängen konnte, gelang es den kleinen baltischen Staaten nur mit Mühe, die Rote Armee zu stoppen. 1920 aber waren alle drei Republiken konsolidiert, und Sowjetrussland verzichtete offiziell auf alle territorialen Ansprüche.
Stalin wollte dies revidieren. Im Herbst 1939 sagte er im Hinblick auf die Anerkennung Lettlands dem lettischen Aussenminister Vilhelms Munters: «Was 1920 geschah, muss nicht immer so bleiben. Schon Peter der Grosse sorgte sich um einen Zugang zum Meer. In jüngster Zeit hatten wir keinen Zugang, diese Situation muss sich ändern.» Bereits seit 1938 hatte es konkrete Planungen für ein militärisches Vorrücken nach Westen gegeben. Der Hitler-Stalin-Pakt machte den Weg dafür frei: Im Herbst 1939, nach der Besetzung Ostpolens, richtete Moskau Ultimaten an alle drei baltischen Staaten (und Finnland), in denen die Stationierung von sowjetischen Truppen in diesen Ländern gefordert wurde. Zugleich liess Stalin Truppen an den Grenzen aufmarschieren.
Unter diesem Druck blieb den Regierungen in Tallinn, Riga und Kaunas nichts anderes übrig, als ihre Souveränität aufzugeben und die bilateralen «Beistandsverträge» zu unterzeichnen. Diese sahen die Stationierung von insgesamt 75'000 Soldaten der Roten Armee auf dem Gebiet der drei Staaten vor – weitaus mehr, als sie selber unter Waffen hatten. Litauen erhielt nun das vormals polnische Gebiet um Wilna, das es stets beansprucht hatte. Zugleich begann die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung – der sogenannten Deutsch-Balten – aus Lettland und Estland in die deutsch besetzten Gebiete Polens.
Die endgültige Angliederung des Baltikums erfolgte erst im Juni 1940, als der deutsche Westfeldzug gegen Frankreich die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zog. Die schnelle Niederwerfung Frankreichs überraschte Stalin unangenehm, der nun umgehend die Besetzung der beanspruchten Territorien in Ost- und Südosteuropa anordnete. In den baltischen Staaten forderte Moskau jetzt die Verstärkung der Militärpräsenz und beanstandete angebliche Vertragsverletzungen. Am 15. Juni marschierten dann 300'000 Rotarmisten in Litauen ein, zwei Tage später auch in Lettland und Estland.
Die baltischen Armeen wurden entwaffnet, die gewählten Regierungen gestürzt und moskauhörige installiert. Wenige Wochen später fanden sogenannte Parlamentswahlen statt, die zum gewünschten Ergebnis führten: Ende Juli riefen die Marionetten Moskaus in allen drei Ländern eine Sozialistische Sowjetrepublik aus und ersuchten dann den Kreml um Aufnahme in die Sowjetunion.
Auch in den baltischen Staaten setzte nun wie in Ostpolen der stalinistische Terror ein: Allein in den ersten beiden Tagen der Besetzung wurden im gesamten Baltikum 50'000 bis 65'000 Menschen verhaftet. Sie wurden in ungeheizten Viehwaggons nach Sibirien transportiert. Noch kurz vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann eine umfangreiche Massendeportation in den baltischen Ländern und Bessarabien, bei der rund 95'000 Menschen – meist Angehörige der bürgerlichen Elite – in den Gulag deportiert wurden. Dort wurden Hunderte von Männern erschossen; zahllose Deportierte starben an Unterernährung, Kälte oder Zwangsarbeit. Nur wenige kehrten nach dem Krieg zurück.
Aufgrund der schlechten Erfahrungen mit der sowjetischen Herrschaft kollaborierten viele Balten nach dem deutschen Einmarsch mit der neuen Besatzungsmacht, besonders die Waldbrüder, die bereits vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion die Rote Armee in Guerilla-Aktionen bekämpft hatten. Nach der Rückeroberung durch die Rote Armee führte dies zu Repressalien durch die Sowjets, die 1945 und 1949 neue Massendeportationen durchführten. Zudem wurden nun Hunderttausende von russischsprachigen Sowjetbürgern im Baltikum angesiedelt, um diese Sowjetrepubliken zu russifizieren. Der bewaffnete Widerstand der Waldbrüder gegen die Rote Armee endete erst 1953 nach Stalins Tod.
Bessarabien, dessen Bevölkerung etwas mehr als zur Hälfte rumänischsprachig war, bildete nach dem Zerfall des Russischen Reiches 1917 kurzzeitig als Moldauische Demokratische Republik einen selbstständigen Staat, schloss sich aber im Jahr darauf freiwillig Rumänien an. Als Frankreich im Juni 1940 von der Wehrmacht überrannt wurde, verlor Rumänien seinen Bündnispartner, und Stalin sah den Zeitpunkt gekommen, das Territorium zurückzuholen. Vier Tage nach der französischen Kapitulation am 22. Juni forderte Moskau von Bukarest ultimativ die Abtretung Bessarabiens und der Nordbukowina innert dreier Tage.
Bereits zwei Tage später marschierte die Rote Armee ein; Rumänien machte zwar mobil, leistete aber auf Empfehlung der deutschen Regierung keinen Widerstand. Die rumänischen Truppen und Beamten verliessen das Gebiet überstürzt. Die Nordbukowina und der südliche Teil Bessarabiens (Budschak) wurden der ukrainischen Sowjetrepublik angegliedert, während der grössere Rest zusammen mit Teilen der ukrainischen Moldauischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik die eigenständige Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik bildete.
Auch in Bessarabien begannen die Sowjets umgehend mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und deportierten einen Grossteil der Elite und der Grossbauern als «Klassenfeinde» in den Gulag oder ermordete sie. Der Minderheit der etwa 94'000 Bessarabiendeutschen erging es zunächst besser; gemäss dem Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag sollte sie unter dem Motto «Heim ins Reich» umgesiedelt werden. Der überwiegende Teil der Bessarabiendeutschen und Bukowinadeutschen wurde im besetzten Polen angesiedelt, um dessen Germanisierung zu beschleunigen. Die Sowjetunion ihrerseits siedelte Russen, Ukrainer und Weissrussen in Bessarabien an, um es zu russifizieren.
Bereits im Juli und August 1941 eroberten deutsche und rumänische Truppen – Rumänien war nun Bündnispartner des Deutschen Reichs – das Gebiet zurück. Gemeinsam mit einer deutschen sogenannten Einsatzgruppe verübte die rumänische Armee einen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung – von rund 250'000 blieben nur 56'000 am Leben. Sie wurden nach Transnistrien deportiert, wo die Hälfte von ihnen durch Hunger und Krankheiten umkam. Auch die im Land ansässigen Roma wurden verfolgt und ermordet.
Die Rückeroberung war nicht von Dauer. Drei Jahre später überrannte die Rote Armee in der Operation Jassy-Kischinew Bessarabien mit 900'000 Soldaten in nur fünf Tagen. Die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik wurde wieder hergestellt. Die stalinistische Repression kehrte zurück; 1949 wurden in zwei Tagen rund 35'000 Menschen enteignet und deportiert. Zudem setzte eine neue Welle der Ansiedlung von Russen ein und das kyrillische Alphabet wurde für die rumänische Sprache eingeführt. Bessarabien verblieb – wie die ebenfalls im Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts der Sowjetunion zugeschlagenen baltischen Staaten und Ostpolen – unter Kontrolle des Kremls.
Im Gegensatz zu den anderen Territorien, die gemäss dem Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts in der sowjetischen Interessensphäre lagen, konnte Finnland seine Unabhängigkeit bewahren – und dies trotz eines russischen Angriffs mit weit überlegenen Kräften. Der flächenmässig grosse Staat im Norden Europas hatte erst 1917 seine Unabhängigkeit erlangt, nachdem das Gebiet jahrhundertelang zu Schweden und seit 1809 zu Russland gehört hatte. Das Grossfürstentum hatte sich im Russischen Reich allerdings weitgehend selbst verwaltet und verfügte über ein eigenes Parlament.
Lenin hatte Finnland schon Anfang 1918 als souveränen Staat anerkannt, doch im folgenden finnischen Bürgerkrieg unterstützten die Bolschewiki gleichwohl die kommunistische Seite. Diese unterlag jedoch, worauf zahlreiche Kommunisten ins Exil nach Sowjetrussland flohen. Die Spaltung der Gesellschaft in «Weisse» und «Rote» blieb auch nach dem Ende des Bürgerkriegs noch bestehen. Das Verhältnis zu Sowjetrussland wurde auch durch die vergeblichen Versuche irregulärer finnischer Truppen, Ostkarelien zu erobern, belastet. Diese endeten 1920 mit dem Frieden von Dorpat, und 1932 schlossen die beiden Staaten einen Nichtangriffspakt. Finnland band sich zudem in die skandinavische Neutralitätspolitik ein.
Das Misstrauen auf beiden Seiten schwand jedoch nicht. Die Sowjets befürchteten, dass Finnland als Aufmarschgebiet für feindliche Armeen dienen könnte; dabei war ihnen insbesondere die kurze Distanz von der finnischen Grenze nach Leningrad, der zweitgrössten Stadt der Sowjetunion und ein Zentrum der Rüstungsindustrie, ein Dorn im Auge. Schon im April 1938 liess Stalin Geheimverhandlungen mit der finnischen Regierung aufnehmen und forderte Grenzkorrekturen und einen Militärstützpunkt. Die Finnen gaben Sicherheitsgarantien, gingen ansonsten aber nicht auf die Forderungen ein.
Nachdem Moskau die baltischen Länder mit den oktroyierten «Beistandsverträgen» zu Vasallenstaaten degradiert hatte, erhöhte es nun auch den Druck auf Finnland. Anfang Oktober 1939 erhielt die Regierung in Helsinki die ultimative Aufforderung, eine Delegation zu Verhandlungen nach Moskau zu schicken. Die für die Finnen unannehmbaren sowjetischen Forderungen enthielten unter anderem einen militärischen Beistandspakt nach baltischem Muster, die Abtretung mehrerer Inseln im Finnischen Meerbusen und die Verschiebung der Grenze auf der karelischen Landenge ins Landesinnere. Zum Ausgleich bot Moskau ein grösseres, aber nahezu unbewohntes Stück Land in Ostkarelien an.
Die finnische Regierung lehnte das sowjetische Ansinnen ab, obwohl der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Carl Gustaf Emil Mannerheim, zumindest territoriale Zugeständnisse für unausweichlich hielt. Im November brach Helsinki die Verhandlungen ab. Der sowjetische Aussenminister Wjatscheslaw Molotow drohte darauf: «Wir, die Zivilisten, scheinen nichts in der Sache tun zu können: Jetzt müssen die militärischen Kreise ihr Wort sprechen.» Es war keine leere Drohung, wie sich Ende November zeigte: Moskau brach die diplomatischen Beziehungen ab, nachdem es einen angeblichen finnischen Überfall auf einen Grenzposten inszeniert hatte. Tags darauf, am 30. November, griff die Rote Armee auf breiter Front an.
Trotz der enormen sowjetischen Überlegenheit an Mann und Material – drei zu eins bei den Soldaten, fünf zu eins bei der Artillerie und achtzig zu eins bei gepanzerten Fahrzeugen – verlief der Feldzug nicht wie gewünscht. Die unterlegene finnische Armee stoppte die sowjetische Dampfwalze an der sogenannten Mannerheim-Linie in der karelischen Landenge, einer vorbereiteten Defensivstellung. Kleine, mobile Einheiten und gut getarnte Partisanen auf Skiern brachten den Invasoren hohe Verluste bei. Aus der schnellen Invasion, die nur wenige Wochen dauern sollte, wurde ein monatelanges, vor allem für die Sowjets äusserst verlustreiches Gemetzel, das als «Winterkrieg» in die Geschichtsbücher einging.
Der sowjetische Feldzug war schlecht geplant, was auch daran lag, dass Stalin in den Dreissigerjahren die Mannschaftsstärke der Armee zwar erhöht, aber zugleich das Offizierkorps während der Säuberungen gnadenlos dezimiert hatte. An Stelle der liquidierten Offiziere traten unerfahrene Truppenführer, deren einzige Taktik im Frontalangriff bestand. Überdies unterschätzten die Invasoren sträflich den Widerstandswillen der Finnen; sie glaubten zu sehr an die eigene Propaganda von der Befreiung der finnischen Werktätigen. Schon die Bombardierung Helsinkis am ersten Kriegstag strafte diese Behauptung Lügen. Molotow behauptete zynisch, die Bomber hätten Brot gebracht – was die Finnen dazu inspirierte, ihre Brandsätze «Molotow-Cocktails» zu nennen.
All dies – die schlechte Planung, die Verkennung des Gegners, die mangelnde Taktik, die brutale Kriegsführung – erinnert unweigerlich an den aktuellen russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Anders als bisher in der Ukraine gelang es den Invasoren in Finnland aber, in einer zweiten Offensive Anfang 1940 die Verteidiger mit einem noch grösseren Truppenaufgebot zu erdrücken und die Mannerheim-Linie zu durchbrechen.
Die finnische Regierung sah sich gezwungen, Friedensverhandlungen aufzunehmen und die jetzt wesentlich härteren sowjetischen Forderungen zu erfüllen. Finnland verlor insbesondere umfangreiche Gebiete in Karelien, die nun in die neu gegründete Karelo-Finnische Sozialistische Sowjetrepublik integriert wurden. Fast eine halbe Million Flüchtlinge fluteten aus Karelien nach Finnland. Zudem musste Helsinki der Sowjetmarine den Flottenstützpunkt Hanko verpachten. Ein Militärbündnis mit Moskau wurde indes nicht mehr verlangt.
Der Krieg endete am 13. März 1940, er hatte rund 25'000 Finnen und 125'000 Rotarmisten das Leben gekostet. Möglicherweise waren es diese horrenden Verluste, die Stalin davon abhielten, das Land ganz zu besetzen. Ob er dies überhaupt plante, ist nach wie vor umstritten. Jedenfalls wurde Finnland auch nach dem Ende des sogenannten Fortsetzungskriegs von 1941 bis 1944 nicht besetzt. Als Bündnispartner Nazi-Deutschlands hatte Finnland versucht, die verlorenen Gebiete zurückzuholen, musste aber gegen Kriegsende die Fronten wechseln und weitere territoriale Zugeständnisse machen.
Der Hitler-Stalin-Pakt hatte Folgen, die weit über den Zweiten Weltkrieg hinausreichten. Dies lag vor allen Dingen an der Tatsache, dass die Sowjetunion zu den Siegermächten des Krieges gehörte und als Supermacht im Kalten Krieg den Ostblock beherrschte. Unter diesen Umständen war an eine Rückgabe der durch den Pakt der Sowjetunion zugeschlagenen Gebiete gar nicht erst zu denken. Die westlichen Alliierten anerkannten diese Annexionen zwar nicht ausdrücklich, akzeptierten sie jedoch stillschweigend.
Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich dies. Die baltischen Staaten erlangten 1990/1991 ihre Unabhängigkeit wieder. Es kam jedoch bald zu Spannungen zwischen der ethnisch baltischen und der beträchtlichen russischstämmigen Bevölkerungsgruppe – die Sicht der beiden Gruppen auf die Geschichte dieser Staaten unterscheidet sich oft auch heute noch fundamental. Ebenfalls wieder unabhängig wurde die Republik Moldau. Auch hier gibt es eine russischstämmige Minderheit. Sie ist vor allem in der Region Transnistrien stark, die sich von Moldau abgespalten hat und von Russland unterstützt wird, das dort auch Soldaten stationiert hat.
Wohl dauerhaft bleibt indes die Zugehörigkeit der ehemals ostpolnischen Gebiete zu den ebenfalls aus der Konkursmasse der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten Belarus und Ukraine. Die dort ehemals ansässige polnische Bevölkerung wurde in den Westen umgesiedelt. Dasselbe gilt für die Gebiete, die Finnland an die Sowjetunion abtreten musste.
Geändert hat sich allerdings die finnische Aussenpolitik, die nach dem Zweiten Weltkrieg strikt neutral und von der Rücksichtnahme auf den mächtigen Nachbarn im Osten geprägt war. Der russische Angriff auf die Ukraine hat dieses finnische Modell pulverisiert und Finnland in die Arme der Nato getrieben. Das gemeinsame Erbe in den Territorien, die durch das Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts der Sowjetunion zugeschlagen wurden, scheint – mit Ausnahme der heute belarussischen Gebiete – in einem starken antirussischen Sentiment zu bestehen, das Putin durch seinen Krieg noch befeuert.