Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Ein neuer Dokumentarfilm (siehe Video unten) beleuchtet am Beispiel des umstrittenen Schweizer Historikers Daniele Ganser, welch erbitterte Auseinandersetzungen bei Wikipedia-Artikeln zu kontroversen Themen oder Personen im Hintergrund ablaufen. Gansers Spezialgebiet ist verdeckte Kriegsführung und er erforscht in diesem Zusammenhang auch Verschwörungstheorien zu den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001. Seine Versuche, den Wikipedia-Artikel zu seiner eigenen Person abzuändern, werden von zwei Administratoren konsequent blockiert. Deren Identitäten und Methoden werden in dem Dokumentarfilm enthüllt.
Ganser stört sich vor allem an dem Wort «Verschwörungstheorie» in besagtem Wikipedia-Artikel. Im Interview mit watson erklärt er, warum. Denn eigentlich beschreibt der Begriff exakt, womit er sich Tag ein Tag aus beschäftigt.
Haben Sie sich den Film «Die dunkle Seite der Wikipedia» angeschaut?
Daniele Ganser: Ja.
Was halten Sie davon?
Ich fand ihn sehr interessant. Als Historiker beschäftige ich mich mit geschichtlichen Ereignissen, konkret habe ich die Kuba-Krise untersucht, die Nato, 9/11, den Irakkrieg – aber Wikipedia habe ich noch nie untersucht. Ich nutze die Online-Enzyklopädie ausschliesslich, um mir unbekannte Orte nachzuschlagen.
Wie wurden Sie auf Ihren eigenen Wikipedia-Artikel aufmerksam?
Ich bekam Mails von Lesern meiner Bücher, die mir sagten, meine Wikipediaseite sei grässlich. Also schaute ich mir das an und stellte tatsächlich fest, dass ich dort niedergemacht werde. Das regte mich auf, aber ich verstand nicht, wie so etwas funktioniert und wer dahintersteht. Ich beauftragte einen meiner Mitarbeiter, einen Wikipedia-Account anzulegen und den Artikel zu verbessern. Alle Änderungen wurden sofort blockiert. Ich liess die Angelegenheit ruhen, weil mir schlicht die Zeit fehlte. Dann trat an einem meiner Vorträge in Berlin Markus Fiedler an mich heran mit der Idee, die Geschichte hinter meinem Wikipedia-Artikel aufzudröseln. Daraus entstand dieser Film. Am interessantesten finde ich, dass er am Schluss enthüllt, wer sich hinter den Pseudonymen Kopilot und Phi verbirgt.
Leider wird im Film nichts über die Motive der Wikipedia-Autoren* bekannt. Wissen Sie mehr?
Von einem der Beiden habe ich einmal eine E-Mail erhalten, allerdings ohne zu begreifen, dass es sich um den Wikipedia-Sichter Kopilot handelt. Darin schrieb er mir, wenn ich mit meinem Artikel nicht zufrieden sei, könne ich selbst daran arbeiten.
Was haben Sie ihm geantwortet?
Dass ich nicht selber auf Wikipedia schreibe. Nicht, dass es unter meiner Würde wäre, aber ich bin Institutsleiter und bringe auch keine Päckli zur Post. Ich schrieb, ich hätte einen Mitarbeiter damit beauftragt, dessen Änderungen aber immer gleich gelöscht würden. Dann fragte ich ihn nach seinen Qualifikationen, seinem Alter, Wohnort. Unter Historikern sei es üblich, dass man seine Identität preisgibt, wenn man sich zu einem Thema äussert. Das sei ebenso normal wie der Gelehrtenstreit an sich. Wissenschaft funktioniert mit offenem Visier. Ich muss doch wissen, mit wem ich mich unterhalte.
Was erwiderte er?
«Meine Person tut nichts zur Sache.» Das stimmt natürlich überhaupt nicht, weil er – eine aus meiner Sicht unqualifizierte Person – praktisch den ganzen Eintrag über mich verfasst hat. Ich musste akzeptieren, nichts weiter über ihn herauszufinden, bis dieser Dokumentarfilm seine Identität enthüllte. Ich hoffe, er reagiert jetzt. Woher hat er die Zeit, neben seinem Beruf so viel Zeit auf Wikipedia zu schreiben? Und zu so vielen verschiedenen Themen? Was ist sein Antrieb? Er hat das Recht und die Pflicht, sich zu erklären.
Ein Grossteil des Films handelt vom dritten Satz in Ihrem Wikipedia-Artikel ...
... «Er greift Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 auf und stellt sie als diskutable wissenschaftliche Erklärungen dar.»
… und den negativen Konnotationen des Begriffs «Verschwörungstheorie». Was verstehen Sie darunter?
Eine Verschwörung ist eine geheime Absprache zwischen zwei oder mehr Menschen, um zusammen ein Ziel zu erreichen. Das ist die wissenschaftliche Definition. Verschwörungen gibt es überall und immer wieder. In meiner Doktorarbeit schrieb ich über die geheimen Armeen der Nato, die ohne parlamentarische Kontrolle operierten.
So wie bei uns die P-26.
Genau. Da wurden zwar einige ausgewählte Parlamentarier informiert, aber die durften es auch niemandem sagen. Andere Beispiele sind die Iran-Contra-Affäre oder der Tonkin-Zwischenfall. Historiker konnten in der Vergangenheit mit einer gewissen Ruhe Verschwörungen untersuchen. Oft ist es heikel, weil auch die Quellenlage schlecht ist, aber das liegt in der Natur der Sache. Dann kam 9/11 und George W. Bush erklärte vor der UNO, die USA würden niemals abstruse Verschwörungstheorien tolerieren. Alle Medien übernahmen diese Sprachregelung: Es gibt Bushs Geschichte zu 9/11, das ist die Wahrheit. Der Rest sind Verschwörungstheorien und Blödsinn.
Habe ich Sie richtig verstanden: Der Begriff «Verschwörungstheorie» im streng wissenschaftlichen Sinn beschreibt Ihre Forschungsgebiete korrekt?
Das ist richtig. Die Nato-Geheimarmeen waren eine Verschwörung. Aber seit 9/11 wird der Begriff dafür verwendet, Menschen mit einer anderen Analyse mit Spinnern, Pädophilen, Antisemiten und Holocaust-Leugnern in eine Ecke zu stellen.
Warum beugen Sie sich dem unwissenschaftlichen Sprachgebrauch? Warum stehen Sie nicht hin und sagen: «Ja, ich untersuche Verschwörungstheorien»?
Ich tue beides. Manchmal sage in meinen Voträgen, dass alle Geschichten zu 9/11 Verschwörungstheorien sind.
Eine gute Stelle im Dokumentarfilm: Auch die offizielle Version der Ereignisse ist eine Verschwörungstheorie, eine Verschwörung von 20 Al-Kaida-Terroristen.
Bislang hat noch niemand behauptet, 9/11 sei von einer einzigen Person verübt worden. Jede Theorie nennt mehrere Personen, somit ist die Voraussetzung einer Verschwörung erfüllt. Die Frage ist, wer diese Personen sind.
Wer sind sie?
Die offizielle Version besagt, dass Osama Bin Laden 20 Personen beauftragte, Flugzeuge zu entführen. Auch gemäss einer anderen Verschwörungstheorie, der sogenannten LIHOP-Theorie («Let-it-happen-on-purpose» – «Lass-es-absichtlich-geschehen»), waren es Bin Laden und seine Leute, doch korrupte Teile des US-Militärs und der US-Geheimdienste wussten davon und liessen die Anschläge absichtlich zu. Gemäss einer dritten Theorie («Inside Job») hatte Bin Laden nichts damit zu tun, sondern die Geheimdienste inszenierten die Anschläge.
Und welche stimmt Ihres Erachtens?
Zu allen drei Theorien gibt es unzählige Bücher, Filme und Websites. Wissenschaftler können sich doch nicht von Anfang an festlegen, welche dieser Verschwörungstheorien stimmt. Wir gehen das ergebnisoffen an und sagen, jeder soll seine Fakten vorlegen.
Müsste sich nicht nach einer gewissen Zeit herauskristallisieren, welche Theorie am plausibelsten ist?
Doch, irgendwann passiert das. Es gibt wissenschaftlichen Fortschritt. Die Hauptdebatte bei 9/11 ist das Gebäude WTC7, das einstürzte, obwohl es von keinem Flugzeug getroffen wurde. Das National Institute of Standards and Technology (NIST), vergleichbar mit unserer Empa, nennt Feuer als Einsturzursache. Zahlreiche Architekten und Statiker, auch solche von der ETH, sagen, das sei unmöglich. 2006 schrieb ich deshalb im «Tages-Anzeiger» von einer 9/11-Debatte. Und die haben wir heute noch. Ich bin einer der wenigen Wissenschaftler im historischen Bereich, die 9/11 überhaupt untersuchen.
Ihr Spezialgebiet sind False-Flag-Operations, oder verdeckte Kriegsführung. Da geht es nicht einfach um ungelöste Fragen, sondern um konkrete Schuldzuweisungen.
Jeder Wissenschaftler hat sein Spezialgebiet, meines ist die Aufdeckung von verdeckter Kriegsführung. Es ist klar, dass man nach 9/11 von mir wissen wollte, wie ich die Ereignisse kommentiere. Ich sagte zunächst gar nichts, wartete den offiziellen Bericht ab. Erst 2006 äusserte ich mich. Mein Leben wäre wohl anders verlaufen, wenn ich geschwiegen hätte. Obwohl ich dafür angefeindet werde, verteidige ich die wissenschaftliche Sicht.
Wikileaks und Edward Snowden zeigen, wie schwierig es heute ist, etwas geheim zu halten. Seit 9/11 sind mehr als 14 Jahre vergangen. Wenn die offizielle Version nicht zutrifft, müsste die Wahrheit dann nicht langsam ans Licht kommen?
14 Jahre sind aus historischer Sicht nicht mehr als ein Wimpernschlag. Der Tonkin-Zwischenfall, mit dem die USA die Eskalation des Vietnamkriegs rechtfertigten, ereignete sich 1964. Abschliessende Gewissheit, dass der Zwischenfall erfunden wurde, brachte erst die Freigabe eines NSA-Dokuments im Jahr 2005. Also nach mehr als 40 Jahren. Das mit den Massenvernichtungswaffen im Irakkrieg flog hingegen nach wenigen Monaten auf. Es kommt immer darauf an, wie kompliziert die Lüge ist.
Wie kompliziert ist 9/11?
9/11 ist ein hochkomplexes Verbrechen. Meine Technik ist es, viel wegzulassen und mich auf ein Detail zu konzentrieren. Dann landet man irgendwann bei Säule 79 des WTC7. Und es braucht Geduld. In Abständen von zwei, drei Jahren schaue ich, wer zu diesem Thema eine wichtige Forschung geleistet hat.
Ich persönlich habe nicht den Eindruck, dass in den vergangenen zehn Jahren bahnbrechende neue Erkenntnisse zu 9/11 präsentiert wurden.
Ich denke schon. Vielleicht kommen sie in der Öffentlichkeit nicht an. Beim Thema WTC7 ist viel geschehen. Im Bericht der 9/11-Kommission von 2004 kommt das Gebäude nicht einmal vor, was ein grosser Fehler war. 2008 kam der NIST-Bericht, wonach es durch Feuer einstürzte. Darauf reagierten die Architects and Engineers for 9/11 Truth, die das in Zweifel ziehen. Wenn ein Gebäude aus Stahl und Beton durch Feuer in sich zusammenbrechen kann, dann hätte das gewaltige Konsequenzen für die Versicherungsbranche. Wir sind viel weiter als 2001. Es ist Ihnen natürlich freigestellt, das anders zu sehen.
Sie äussern auch Zweifel an den offiziellen Versionen von MH17, dem Ukrainekonflikt und Charlie Hebdo. Wird man als Historiker mit dem Spezialgebiet «Verdeckte Kriegsführung» irgendwann paranoid?
Paranoid würde ich nicht sagen. Ich halte Menschen in erster Linie für sehr liebenswerte Wesen. Die meisten wollen niemanden umbringen, vergewaltigen, enthaupten, überwachen oder manipulieren. Sagen wir, auf ein Prozent der Weltbevölkerung trifft das nicht zu. Das sind 70 Millionen, und die ziehen schon eine ziemliche Blutspur. Sie kommen aus ganz verschiedenen Ländern und kombinieren Gewalt und Lüge. Man sollte nicht naiv sein. Diese ein Prozent kennen gar nichts. Ein Toter, 10’000 Tote, das spielt keine Rolle. Im Irakkrieg starben eine Million Menschen. Das ist Dick Cheney völlig egal. Diese Kombination von Gewalt und Lüge weckt mein Interesse. Und ja, es stimmt, es gäbe in diesem Bereich viel zu untersuchen. Ich werde das auch weiterhin tun.
*Watson hat die beiden Wikipedia-Autoren in seiner ersten Version namentlich genannt. Angesichts der Heftigkeit der Debatte und um die Wikipedia-Autoren zu schützen, verzichten wir darauf.