Immer häufiger verzichten Konsumentinnen und Konsumenten auf Fleisch und greifen stattdessen auf Ersatzprodukte zurück. Nun wird daran gearbeitet, ein sogenanntes kultiviertes Fleisch zu entwickeln – auch die Migros ist daran beteiligt. Mit den Firmen Givaudan und Bühler haben die den Cultures Food Innovation Hub in Kemptthal bei Zürich gegründet.
Die drei Unternehmen #Givaudan aus Vernier, #Migros aus Zürich und #Bühler aus Uzwil haben in Kemptthal den «Cultured Food Innovation Hub» gegründet, um die Entwicklung und den Marktanteil von Produkten aus kultivierter Landwirtschaft voranzutreiben.https://t.co/gfXhZyLUTX
— Der LEADER - das Unternehmermagazin (@LEADER_Magazin) September 15, 2021
Kultiviertes Fleisch – auch bekannt als Laborfleisch oder In-vitro-Fleisch – wird mithilfe von Zellkulturen gezüchtet. Dazu benötigt wird ein kleines Stück Gewebe, welches beispielsweise von einer Kuh oder von einem Huhn stammt. Das Gewebe enthält Zellen, welche im Labor zu einem Zellhaufen vermehrt werden. Dieser kann dann in Form von Hackbällchen oder Nuggets gegessen werden.
Nein, noch nicht. Allerdings arbeiten über fünfzig Startups daran, die traditionelle Fleischindustrie damit zu revolutionieren, schreibt die NZZ am Sonntag. Seit Jahren fliessen Millionenbeträge in die Forschung. Noch gibt es aber keine Produkte aus vollständig kultiviertem Fleisch zu kaufen. Geworben wird dennoch fleissig: Dieses Fleisch der Zukunft sei gut für das Klima, sowie für die Gesundheit der Menschen und das Tierwohl, heisst es. Auch die Migros setzt Hoffnungen auf dieses Produkt: Kultiviertes Fleisch habe erheblich geringere Auswirkungen auf die Umwelt und komme ohne die Massentierhaltung oder Schlachtung aus.
Mittlerweile ist bekannt, dass die jetzige Fleischherstellung nicht nachhaltig ist. Kann Laborfleisch da Abhilfe schaffen? Die Technikphilosophin Silvia Woll vom Karlsruher Institut für Technologie ist skeptisch. Im Rahmen eines zweijährigen Forschungsprojekts hat sie sich mit den Auswirkungen des In-vitor-Fleisch beschäftigt. Gegenüber der NZZ am Sonntag erklärt sie: «Man kann noch gar keine zuverlässigen Aussagen darüber machen, wie sich In-vitro-Fleisch auf Klima, Umwelt und Gesundheit auswirken wird.» Noch existieren die nötigen industriellen Produktionsanlagen gar nicht, weshalb in dieser Hinsicht noch Daten fehlen.
Gemäss Hochrechnungen basierend auf Annahmen, entstehen bei der Hackbällchen-Anzucht im Labor weniger als 75 Prozent Treibhausgase als bei den Rindern auf der Weide. Hingegen sind die Treibhausgasemissionen von Laborfleisch beim Schweinefleisch zweimal so hoch, bei Geflügel sogar dreimal.
Vermutlich nicht. Die Zellen benötigen eine Körpertemperatur von 37 Grad, die Anlagen müssen sterilisiert werden und die notwendigen Nährmedien müssen hergestellt werden – das braucht alles Energie. So kommen einige Studien zum Schluss, dass das Laborfleisch punkto Energieverbrauch sogar schlechter abschneidet als Rindfleisch. Auf jeden Fall mehr Energie wird benötigt als bei der herkömmlichen Huhn- und Schweinefleischproduktion.
Sivia Woll weist daraufhin, dass die Nachhaltigkeit schlussendlich davon abhänge, wo der Strom herkomme. Gemäss einer Analyse der niederländischen Beraterfirma CE Delft müssten 30 Prozent der notwendigen Energie aus erneuerbaren Energien stammen. Auf diese Weise könnte das Laborfleisch beim CO2-Fussabdruck mit konventionellem Geflügel- und Schweinefleisch mithalten. Ressourcenschonender scheint das Laborfleisch bei Land- und Wasserverbrauch zu sein.
Um an das Ausgangsgewebe für die Zellkulturen zu gelangen, würde man sicher nur einen Bruchteil der Nutztiere benötigen. Werden diese Tiere dann aber so kosteneffizient wie möglich gehalten, dann hätte man qualitativ nach wie vor nichts gewonnen, so Sivlia Woll.
Ganz ohne Schlachtung ist das Laborfleisch aber nicht immer ausgekommen. In Singapur wurden vor einem Jahr Chicken-Nuggets aus gezüchtetem Laborfleisch gefeiert. Aber: Für die Züchtung wurde fötales Kälberserum verwendet. Um an dieses zu gelangen, muss einer frisch geschlachteten Kuh der Fötus aus dem Uterus geschnitten und diesem unbetäubt Blut abgenommen werden.
Mittlerweile soll ein Ersatz für dieses fötale Kälberserum gefunden worden sein, heisst es nach Angaben der Firmen. Auch wenn sie Details nicht öffentlich machen, könne der Ersatz beispielsweise aus Pflanzen oder Pilzen gewonnen werden.
Wer kultiviertes Fleisch möchte, muss tief ins Portemonnaie greifen: Es kann bis zu 100- bis 10'000-mal mehr kosten als traditionelle Fleischprodukte. Der erste Burger der niederländischen Firma Mosa Meat kostete im Jahr 2013 etwa 325'000 Dollar. Bereits bis 2016 konnten die Kosten massiv auf 11.40 Dollar gesenkt werden. Doch für den Massenmarkt ist das noch immer zu teuer. Mit einem Produktionsausbau auf industriellen Massstab könnten die Kosten allerdings gedrückt werden. Andere Möglichkeiten bestünden in der Verwendung von Insektenzellen für das proteinhaltige Gewebe. Denkbar wäre auch das genetische Verändern von tierischen Muskelzellen, so dass sie ohne kostentreibende Zusätze wachsen.
Für Forschende ist klar, dass es in der Zukunft kultiviertes Fleisch brauchen wird. Das Potential ist gross, doch bis das Laborfleisch schliesslich in die Supermarktregale wandert, dürfte es noch etwas dauern. (saw)