Gerade wieder drängen Tausendschaften in die Geburtskirche in Bethlehem, stolpern die Treppe hinunter in die stickige Grotte, wo Jesu Krippe gestanden haben soll. Sie werfen sich auf den Boden, beten, weinen, danken ihrem grossen Vorbild. Die religiösen Massen strömen dem Erretter auch knapp 2000 Jahre nach seinem irdischen Ableben zu.
Als globales Idol aber hat er an Strahlkraft eingebüsst. In einer Umfrage zu Vorbildern in Deutschland im November hat Barack Obama doppelt so viele Stimmen erhalten wie der Heiland. In Russland überflügelt Wladimir Putin schon seit Jahren den Erlöser.
Fragt man bei jüngeren Zeitgenossen nach, treten die grossen Männer in den Hintergrund. In einer Erhebung der Zeitung «20 Minuten» gab jeder fünfte Befragte zwischen 14 und 24 an, die eigenen Eltern seien das grösste Vorbild. Jeder zehnte sagte, seine Bewunderung gelte einem Youtuber, Blogger oder Reality Star. Digital aufgebauschten Kreaturen, die sich über soziale Plattformen als potenzielle Werbeträger anpreisen und den sorglosen Konsum zum neuen Ideal der Jugend erheben, sind gerade hoch im Kurs.
Vorbilder, an denen wir unsere Werte festmachen und die uns als menschliche Leuchttürme den Weg durch die Wirren des Lebens leuchten, unterliegen ganz offensichtlich dem Wandel der Zeit. Der deutsche Schriftsteller Georg Diez schrieb in der «Zeit», die 68er-Generation sei wahrscheinlich die letzte gewesen, die sich Menschen mit wahrhaft grossem Leistungsausweis zum Vorbild genommen habe: Nelson Mandela, Che Guevara, John F. Kennedy.
Das Ende des Kalten Krieges habe zu einer Entpolitisierung der Vorbilder geführt, politische Leitfiguren wurden mit dem vorläufigen Schlusspunkt hinter den Kampf der Ideologien obsolet. An ihre Stelle seien völlig überhöhte globale Popstars getreten. Unveränderter Beliebtheit erfreuen sich einzig Eltern, Geschwister und Freunde als Vorbilder. Madonna statt Mandela, Mama statt Mutter Theresa, so sieht das die heutige Gesellschaft.
Während die Vorbilder von früher zu politischem Aktivismus oder mindestens zu aufrichtigem Engagement anspornten, fördern die Vorbilder von heute eher das konservative Festhalten an Altbewährtem (Vorbild Eltern) oder dann aber die Verherrlichung glamouröser Oberflächlichkeit (im Fall der Reality Stars). Komplett verdrängt hätten diese neuen Hochglanz-Idole die altverdienten Vorbilder zwar noch nicht, sagt der Zürcher Sozialpsychologe Christian Fichter.
Noch immer schauten die Menschen zu Persönlichkeiten hoch, die sich durch ihre Werte und Ideale auszeichneten. «Identifizieren können wir uns aber eher mit Menschen, die schön, reich, stark oder beliebt sind. Diese Attribute waren für unsere Vorfahren überlebenswichtig», sagt Fichter.
Diese Attribute werden heute auf dem digitalen Markt in mannigfaltiger Weise feilgeboten. Dank dem Foto-Netzwerk Instagram kann sich jedermann im Online-Schaufenster den vorbeisurfenden Passanten hübsch aufgeputscht präsentieren und sich zum potenziellen Vorbild für die Massen hashtagen. Früher, sagt Psychologe Fichter, seien mögliche Identifikationsfiguren klar als solche zu erkennen gewesen. Öffentlichkeit war ein rares, hart erarbeitetes Gut. «Heute ist die Anzahl prominenter Persönlichkeiten kaum noch zu überblicken», erklärt der 47-Jährige.
Instagram & Co. sind nicht nur eine kostenlose und einfache Abkürzung zu Öffentlichkeit, sie sind letztlich vor allem eines: Narzissmus-Beschleuniger. Statt andere zu bewundern, heroisieren sich die User in zunehmendem Masse selber. Die Bekanntmachung der eigenen Marke wird zum vorherrschenden Ziel. Menschen mit aussergewöhnlichem Leistungsausweis werden eher beneidet als verehrt, da sie im Ringen um die knappe Aufmerksamkeit dieser schnelllebigen Zeit als Konkurrenz erscheinen. Ob der Betrachtung des eigenen Ich auf den glitzernden Oberflächen des digitalen Spiegels droht manch einer vornüberzukippen und in der Leere der eigenen Wenigkeit zu versinken. Die Orientierung an wahrer Grösse kommt abhanden. Statt Leuchttürmen dominiert auf dem Markt der potenziellen Vorbilder plötzlich das sich selbst vermarktende Mittelmass.
Ganz so einfach sei die Gleichung dann doch nicht, sagt Psychologe Christian Fichter. «Zwar ist Instagram tatsächlich voller Mittelmass, aber wir orientieren uns trotzdem nur an den oberen zehn Prozent der Kategorien physische Attraktivität, sozialer Status und finanzielle Potenz.»
Zum Beispiel an der 19-jährigen Zürcherin Zoë Pastelle Holthuizen, einer der erfolgreichsten Instagram-Userinnen der Schweiz – und alles andere als Mittelmass. Ihre 189'000 Follower liess sie diese Woche in einem Post wissen: «Was ich an meinem Job liebe, ist, von kreativen Menschen umgeben zu sein.» Gemeinsam könne man das «absolut Beste auseinander rausholen und die Zeit vergessen, sogar wenn man eine Calvin-Klein-Uhr trägt». Daneben steht ein Bild der blonden Schönheit, umarmt von zwei schlaksigen Männermodels, am Arm je eine schwere Edelmetalluhr. Da ist alles drin: Attraktivität, Status, Potenz – und ein globaler Konzern, der die junge Frau zur lasziven Kommerzsilhouette degradiert.
Der Trick funktioniert. Influencer wie Zoë Pastelle Holthuizen sind gefragte Werbeträger. Schuhproduzenten, Süssgetränkehersteller und Kleiderboutiquen setzen zunehmend auf perfekte Körper und glamouröse Inszenierung, um ihren Produkten den gewünschten Rahmen zu geben. Sie wissen, dass Scharen von Bewunderern versuchen werden, die Lücke zwischen ihrem eigenen Ich und den durchgestylten Vorbildern irgendwie zu schliessen: am besten natürlich auf einem mit den angepriesenen Produkten gepflasterten Weg.
Die Scharen verfallen dabei dem klassischen «Swimmer’s Body»-Fehlschluss: Top-Schwimmer haben tolle Körper, also muss ich schwimmen, um einen perfekten Körper zu erhalten. In Wahrheit ist es genau andersrum: Topschwimmer sind nicht zuletzt deshalb Topschwimmer, weil sie von Natur aus einen sportlichen Körper haben. Zoë Pastelle Holthuizen sieht nicht wegen der umgeschnallten Uhr so toll aus. Sie erhält die Uhr geschenkt, weil sie viele Betrachter von Natur aus schon verzückt.
Der amerikanische Autor Mark Manson warnt in seinem neuen Buch «The Subtle Art of Not Giving A Fuck» davor, sich diese flimmernden Überflieger zum Vorbild zu nehmen. Die Erwartung, selber einmal an ihrer Stelle zu stehen, lasse die allermeisten Menschen letztlich enttäuscht zurück. Erfüllung finde man eher dann, wenn man seine eigenen Grenzen erkennt und die Ziele nicht allzu hoch steckt.
Manson nimmt damit ungewollt auf, was Max Frisch in seinem Text «cum grano salis» einst als Schweizer Schwäche erkannt hatte: das konstante Hinfallen zum langweiligen Mittelmass, die Furcht vor dem Überschwang, der rettende Sprung in den Durchschnitt.
Auch mit dieser These bekundet Christian Fichter Mühe. «Natürlich sind Vorbilder gefährlich. Aber noch gefährlicher ist es, keine Vorbilder zu haben», sagt der Psychologe. Menschen brauchten Vorbilder, um Antworten auf die Frage zu finden, wer sie werden wollen und wer nicht. «Wenn wir wirklich unsere relative Nichtigkeit akzeptieren könnten, wären wir vielleicht glücklich. Bloss funktioniert das nicht», sagt Fichter. «Menschen sind nicht dafür gemacht, Erfüllung im Kleinen zu suchen, sie streben generell nach Höherem.» Das mache dann zwar vielleicht nicht immer glücklich, aber mindestens steige die Chance, dass wir ein sinnvolles Leben lebten.
Letzte Station auf der Reise durch die Vorbild-Sphären: eine 3. Primarklasse in Baden, 22 Kinder, eine Aufgabe: Schreibt auf ein Blatt, wer euer Vorbild ist und warum. Zehnmal sinds die Eltern («Meine Mutter, weil sie mir das Kochen beibringt», «Mein Vater, weil er gut werken kann»), fünfmal die Geschwister («Meine Schwester, weil sie mir sagt, wenn ich einen Fehler gemacht habe», «Mein Bruder, weil er sich gut wehren kann»), dreimal die Grosseltern, zweimal ältere Schüler, einmal ein Cousin und einmal gar der Familienhund («weil er soschnell ist»). Ein typisches Bild, sagt Christian Fichter. Vorbilder, das sind bis zur Pubertät praktisch immer die Eltern oder nahe Verwandte. «Danach kehrt sich das praktisch ins Gegenteil.»
Dabei brächte das Aufblicken zu den eigenen Vorfahren womöglich ein Leben lang Vorbildliches zu Tage. Nicht, weil es zum Festkrallen am Vergangenen animiert, sondern weil es – wie es das Vorbild des Autors einst formulierte – im besten Fall sogar zum Aufbruch ermuntert. Mani Matter tippte einst die grossartigen Zeilen: