Was macht stundenlanges Scrollen mit dem Gehirn? Und was hilft dagegen? Um diese Fragen zu klären, treffen wir die Neurowissenschaftlerin Barbara Studer in Lenzburg. Gemeinsam wollen wir durch den Wald spazieren, denn im Vorgespräch sagte sie, dass Natur das Beste für unser Gehirn sei. Weil Studers Zeit knapp ist, entscheiden wir uns für das nächstgelegene Waldstück.
Dort angekommen, ist es aber gar nicht so entspannend. Zwar wachsen an den Bäumen zartgrüne Blätter, es zwitschern auch ein paar Vögel. Doch die schöne Frühlingsszenerie wird überschattet von einem durchgehenden Lärm: Mitten durch den Wald führt die Autobahn A1.
Frau Studer, hier ist es unglaublich laut. Mein Gehirn ist gerade überreizt, nicht entspannt.
Barbara Studer: (lacht) Ich würde hier auch nicht den ganzen Tag verbringen. Auditiv ist der Raum verschmutzt durch den Autolärm. Aber die Botenstoffe der Pflanzen und das Grün wirken trotzdem gut auf das Gehirn.
Die Botenstoffe der Pflanzen wirken auf unser Gehirn?
Ja. Botenstoffe sind chemische Partikel, über welche die Pflanzen kommunizieren, sogenannte Terpenoide. Sie schützen das Gehirn und aktivieren das parasympathische Nervensystem, welches für die Entspannung zuständig ist. Studien haben gezeigt, dass schon nach 10 bis 20 Minuten in der Natur der Cortisolspiegel im Blut um 21 Prozent sinkt. Cortisol ist ein Stresshormon. Schon nur Natur sehen oder hören reduziert den Stress.
Wieso sind Maschinengeräusche wie von Autos unangenehm und Vogelgezwitscher angenehm?
Naturgeräusche signalisieren Sicherheit und beruhigen, Autogeräusche stören das. In Japan wird Waldbaden sogar ärztlich verschrieben. Ich verstehe nicht, wieso das bei uns nicht gemacht wird. Mindestens dreimal pro Woche in die Natur zu gehen, ist die wirksamste Medizin gegen Stress und die Folgen von übermässigem Medienkonsum, gratis und ohne Nebenwirkungen.
Muss man immer gleich in den Wald, oder hilft auch ein Tag im Park?
Studien zeigen, dass auch Zeit in einem grünen Park Stress reduziert. Auch im Grünen wohnen oder Balkonpflanzen helfen. Wenn man es nicht schafft, jeden Tag im Grünen zu sein, sollte man sich keine Vorwürfe machen. Förderlicher ist es, Selbstmitgefühl zu zeigen und sich kleine, umsetzbare Massnahmen zur Stressreduktion im Alltag einzuplanen. Wie zum Beispiel achtsames Musikhören.
Sie haben im Vorgespräch gesagt, Natur helfe gegen die negativen Folgen von stundenlangem Scrollen. Was macht das Scrollen mit unserem Gehirn?
Eine intensive Mediennutzung aktiviert die Aufmerksamkeitsnetzwerke im Gehirn stark. Kurzfristig ist das nicht schlimm, aber über längere Zeit kann es zu einer mentalen Ermüdung im Frontalkortex kommen. Das führt messbar zu weniger Effizienz im Gehirn.
Was heisst Effizienz in diesem Zusammenhang?
Menschen mit exzessiver Smartphone-Nutzung zeigen bei der Bewältigung einer Konzentrationsaufgabe mehr neuronale Aktivierung und Anstrengung als andere. Sie haben sozusagen ihre fokussierte Aufmerksamkeit abtrainiert und brauchen mehr Energie, um diese aufzubringen. Dazu kommt eine Veränderung im Belohnungssystem. Beim Scrollen hat man eine konstante Stimulation mit dem Glückshormon Dopamin. Wenn diese wegfällt, fühlt man sich leer.
Also man hat einen Dopaminabfall?
Genau. Bei regelmässigem Medienkonsum kommt man in einen Suchtzyklus, man braucht immer mehr für das gleiche Gefühl. Im echten Leben erhält man nicht alle fünf Minuten Komplimente oder schockierende Nachrichten. Die reale Welt ist immer etwas langweilig.
Sie wissen um alle Gefahren des Medienkonsums. Wie fest halten Sie sich an Ihre eigenen Tipps?
Ich versuche, möglichst hirngerecht zu leben, denn es macht mir Spass, das Potenzial meines Gehirns auszuschöpfen. Natürlich schaffe ich es auch nicht immer. Wir haben zu Hause einige Regeln. Wenn man zusammen ist, darf man das Handy nicht benutzen, ausser man nennt einen guten Grund. Esstisch und Schlafzimmer sind smartphonefrei.
Wie stark wirkt sich das Smartphone auf das Gehirn von Kindern aus?
Kinder befinden sich mitten in ihrer Hirnreifung. Wir wissen, dass zu viel Medienkonsum diese Reifung stört. Natürlich kommt es auf die Art, Dauer und Nutzung an. Zusammen einen Film zu schauen, ist wertvoll. Aber Stimulation über soziale Medien oder Gaming braucht ein Kind nicht. Jugendliche müssen lernen, gezielt damit umzugehen. Dafür brauchen sie Begleitung – ihr Frontalkortex, der unter anderem eine «innere Bremsfunktion» hat, ist noch zu schwach. Wie soll ein Kind oder ein Jugendlicher allein gegen Algorithmen ankommen, die von Neurologinnen und Neurologen mitentwickelt werden, um süchtig zu machen?
Was passiert im Erwachsenenalter, wenn man als Jugendlicher zu viel auf TikTok war?
Man hat viel Zeit für stimulierende Aktivitäten verloren – so zum Beispiel für das Erlernen eines Instruments, das ein Leben lang als Ressource dienen kann. Das kann ein längerfristiger Nachteil sein. Bei übermässiger Nutzung von Social Media können sich reale Erfahrungen langweilig anfühlen, und die Hirnsubstanz in bestimmten Arealen kann geringer sein. Auch zeigen Menschen, die gleichzeitig mehrere Medien konsumieren, schlechtere Verbindungen zwischen Gehirnarealen, was die Verarbeitungsgeschwindigkeit reduziert.
Kann man die Hirnsubstanz wieder aufbauen?
Das Gehirn hat eine grosse Plastizität, das heisst, es kann sich strukturell und funktionell anpassen. So merkt man die Wirkung schnell, wenn man eine Lebensstiländerung vornimmt. Man kann ein Instrument lernen oder Krafttraining machen. Auch Überwindung ist gut für das Gehirn, zum Beispiel einen Handstand üben oder kalt duschen. Sehr wertvoll ist auch die Stimulation verschiedener Hirnareale durch reale Begegnungen und tiefe Freundschaften.
Wie motiviert man Kinder und Jugendliche, in den Wald zu gehen? Spaziergänge entdeckt man oft erst im Erwachsenenalter für sich.
Man kann es mit actionreichen Dingen verbinden. Mit meinen Kindern gehen wir in den Wald, um Hütten zu bauen und Feuer zu machen. Jugendliche muss man ab und zu auch zu ihrem Glück zwingen. Wenn sie keine Lust haben, rauszugehen, und man sie im Zimmer gamen lässt, ist das ihnen gegenüber unfair. Sie können noch schlecht antizipieren, welche Konsequenzen eine Entscheidung auf das Erleben hat. Man kann ihnen dabei helfen, indem man sagt: «Du hast jetzt grad keine Lust, aber ich verspreche dir, du wirst dich danach viel besser fühlen. Lass uns zusammen ein cooles Spiel spielen draussen.»
Wäre jetzt auch lieber eine Runde mit Barbara durch den Wald spaziert 🤗
Ich glaub ihre Kids sind noch keine Teenies. Wär ja schön wenn das helfen würde… 🤓