Fliegen? Nein. Mit der Eisenbahn oder dem Automobil in eine der grossen Städte Europas fahren? Sicher nicht. Wohin also soll eine Reise gehen, wenn sie nicht anstrengend sein darf und doch in eine andere Welt führen soll? An einen Ort abseits der urbanen Zentren und doch inspirierend? Und den Reisenden in der Illusion wiegt, die Welt sei nach wie vor so, wie sie einmal war? Ist so eine Reise überhaupt noch möglich?
Diese Reise ist möglich. Am besten in die tiefe Provinz. Gibt es nicht Dichter von Weltrang, die sich auf dem Lande niedergelassen haben und dort zu Werken der Weltliteratur inspiriert worden sind? Würde ein Franzose nach einem solchen Platz in der benachbarten Schweiz suchen, dann würde er mit ziemlicher Sicherheit in Lützelflüh landen. Im Emmental. Von Zürich oder Genf aus gesehen in der tiefsten Provinz. In Lützelflüh wirkte vor vielen, vielen Jahren unser aller Gotthelf als streitbarer Pfarrer, Schriftsteller und Sozialkritiker.
Suchen wir also nach einem Gegenstück zu Lützelflüh und zu Gotthelf im benachbarten Frankreich. Am besten in der von Paris aus gesehen tiefsten Provinz. Im Burgund. Denn eine Reise ins Burgund ist bequem. Bei einem Ausflug Richtung Westen ungefähr zwei Stunden, über Genf hinaus sind keine Staus wie bei einer Fahrt über den Gotthard nach Italien zu befürchten.
Suchen wir also nach einem grossen Poeten im Burgund. Und siehe da: Einer der grossen französischen Dichter der Romantik hat einem 400-Seelen-Dörfchen im südlichen Burgund gar seinen Namen gegeben. Milly-Lamartine. Nach Alphonse Marie Louis Prat de Lamartine (1790 bis 1869). Dichter, Romantiker und streitbarer Politiker.
Für die Franzosen einfach «Lamartine.» Er wandte sich ab von der meist trockenen, seelenlosen Reimerei des 17. und 18. Jahrhunderts. Seine berühmten, langen Liebesgedichte wirken zwar auf die Dauer einschläfernd wie das monotone Rieseln herbstlichen Regens. Aber sie werden immerhin ein wenig durchzittert von leiser Wehmut. Seine Poesie ist auch in die deutsche Sprache übersetzt worden. Hier eine Kostprobe:
Milly-Lamartine liegt im Tal der Valouze, einem Hort der französischen Romantik auf halben Weg zwischen dem etwas seelenlosen Macon und dem knapp 30 Kilometer nördlich liegenden Cluny, einem mystischen 4000-Seelen Städtchen wie aus einem Roman von Dan Brown. Vor bald 1000 Jahren galt das hiesige Kloster als «zweites Rom», die Äbte schufen ein «Mönchsimperium» mit Einfluss auf beinahe 1000 Klöster und sie waren Freunde, Ratgeber von Kaisern, Königen, Fürsten und Päpsten. Inzwischen ist diese Herrlichkeit der Vergessenheit anheimgefallen. Die Abtei, die einst eines der einflussreichsten religiösen Zentren des Mittelalters war, wurde 1798 auf Abbruch verkauft und grösstenteils als Steinbruch abgerissen.
Sozusagen in der Mitte zwischen Macon und Cluny liegt also Milly-Lamartine. Der Ort hiess eigentlich Milly. Aber vor gut hundert Jahren ist einfach der Name des Dichters angehängt worden: Milly-Lamartine. So gesehen müsste es eigentlich Lützelflüh-Gotthelf heissen. Und in 100 Jahren wird niemand mehr wissen, woher die Ortsbezeichnung Auswil-Zaugg kommt.
In Milly-Lamartine verbrachte der grosse Dichter im schlossartigen Zweitwohnsitz der Familie seine wichtigsten Jahre. Ja, er ist hier sogar zum Bürgermeister des Dorfes ernannt worden. Heute ist Milly-Lamartine zum Glück für den nach Ruhe suchenden Reisenden alles andere als ein Tourismus-Zentrum.
Im Dorf gibt es, wie wir bald herausfinden sollten, nicht einmal einen Laden. Und die einzige Beiz im Dorf («L’Auberge de Jack») hat nur bis Mittag offen. Weil sie nicht mehr rentiert. Aber schön wäre es halt doch, gerade hier ein paar Tage zu verbringen. Und siehe da. Das Internet hilft weiter. Ein kaum fassbarer Zufall. Ausgerechnet in Milly-Lamartine haben sich Daniel und Regula Leuenberger einen Traum erfüllt: ein Schloss gekauft und daraus ein wunderbares Gasthaus mit nur fünf Zimmern gemacht: Château le Grand Tinailler. Jeden Abend tischt der Gourmet-Koch für seine Gäste auf – so wie er es ein gutes Vierteljahrhundert lang zusammen mit seiner Gattin im «Trübli» zu Winterthur zelebriert hat.
Wir haben im Pool (ohne Chlor!) gebadet, unter alten Zedern geruht, köstliche Speisen und eleganten Rotwein genossen. Wir sahen die letzten, einsamen Leuchtkäfer verglühen und radelten nach Cluny. Über einen auf einer alten Bahnstrecke angelegten Radweg, der durch einen langen, von Fledermäusen und den Geistern von Dan Brown bewohnten Tunnel führt. Wir bestiegen die Roche de Solutré, einen 493 Meter hohen Kalkhöcker. So wie es einst der grosse Staatsmann François Mitterand jedes Jahr zu Pfingsten mit grossem Medienspektakel zu tun pflegte. Und alles ohne Gesichtsmaske, als sei die Welt noch in Ordnung.
Mehr will ich nicht rühmen. Sonst komme ich in den Verdacht, Werbung zu machen. Der Zufall wollte es, dass die Suche nach einem Ort in einer heilen Welt hier endete. Gut 300 Kilometer oder vier Autostunden westlich von Bern.
Der Gegensatz zur realen Welt könnte grösser nicht sein. Beim Grenzübertritt hinter Genf stehen auf beiden Seiten gestrenge, uniformierte französische Beamte mit Gesichtsmasken. Sie lassen uns unbehelligt vorbeirollen. Aber sie wirken irgendwie bedrohlich wie Zerberusse, die alten Wachhunde am Eingang zur Unterwelt der griechischen Mythologie.
Beim Kaffeehalt auf der Autobahnraststätte gilt Maskenpflicht. Eine gespenstische Atmosphäre. Nur wenige Menschen, alle maskiert, auch das freundliche Personal an der Kasse. In geschlossenen öffentlichen Räumen – dazu gehört eben ein Autobahnrestaurant – gilt Maskenpflicht und sie wird ohne Murren eingehalten. Beim Kaffeehalt auf der Landstrasse gilt: keine Maskenpflicht für die Gartenterrasse. Aber Maskenpflicht für alle, die im Inneren des Gebäudes die Toilette aufsuchen. Eher eine Stimmung wie aus einem Science-Fiction-Film. Aber keine Ferienstimmung.
Doch zwei Stunden nach dem Grenzübertritt ist die Welt in Milly-Lamartine eine ganz andere. Als sei man eben aus einem bösen Traum erwacht und befinde sich wieder in der Welt, wie sie einmal war. Vielleicht ist das also der neue Reiz, die neue Dimension des Reisens. Der Globus schrumpft zur überschaubaren Landkarte.
Ansonsten ein weiterer sehr schöner Reisebericht, Klaus!
Item, Schweizermeister🐻