Erinnert sich noch jemand an die letzten Oscars? Nein? Okay, Lady Gaga trat ungeschminkt auf, Hugh Grant bezeichnete sich selbst als «Skrotum» und Tom Cruise war nicht da, obwohl «Top Gun: Maverick» etwas gewann, weil er bereits wieder am «Mission Impossible 8»-Dreh über irgendeine Klippe rasen musste.
Ganze sieben Oscars gingen an den komplett verrückten (die Steuerbehörde in Gestalt von Jamie Lee Curtis war schuld!) Familienhorror «Everything Everywhere All at Once» mit Michelle Yeoh und einem völlig aufgelösten Ke Huy Quan. Vier weitere Oscars gewann «Im Westen nichts Neues». Nichts ging an die vielnominierten «The Banshees of Inisherin», «The Fabelmans» und «Tár».
Und heuer? Es wird gross! Selten dürften so viele Filme mit so grossem Publikumszulauf gleichzeitig nominiert gewesen sein. Also beide Seiten des Barbenheimer-Phänomens. Und dazu so aussergewöhnliche Werke wie «The Zone of Interest», «Poor Things» und «Anatomie d'une chute». Und zwischenmenschlich Berührendes wie «Killers of the Flower Moon», «Past Lives» und «The Holdovers». Ein toller Jahrgang. Die Show selbst dürfte weitgehend – wenn man ihrem Trailer trauen darf – eine Liebeserklärung an «Everything Everywhere Barbieland» sein.
Und hier geht's zu unseren Prognosen. Und zu eurer Gelegenheit, auch ein bisschen Academy zu spielen.
«Oppenheimer» gewinnt und gewinnt und gewinnt, 305 Auszeichnungen sind es bisher, 381 weitere Male ging er leer aus, er wurde bester Film bei den Golden Globes, bei den BAFTAs, den Critics Choice Awards und vielen mehr. Ein wahrer Bombenerfolg. Mit 518'000 Eintritten (200'000 hinter «Barbie») in der Schweiz ist er auch bei uns ein grosser Publikumsliebling. Wobei in den letzten 20 Jahren doch einige Male äusserst beliebte Filme die wichtigste Kategorie gewonnen haben. 2019 war das «Green Book» (364'000 Eintritte in der Schweiz), 2011 «The King's Speech» (437'000 Eintritte), 2009 «Slumdog Millionaire» (467'000 Eintritte) und 2004 der dritte «The Lord of the Rings»-Teil mit sagenhaften 921'000 Eintritten.
Angenommen, die Academy einigt sich darauf, die beiden grössten Awards nicht an «Oppenheimer» zu verleihen, weil dieser gerade im Schauspiel-Bereich noch den einen und anderen Oscar einsacken wird, ist das Feld komplett offen. Bis auf Scorsese – der hat zwar einen guten, historisch wichtigen und berührenden Film mit einem blendenden Cast gemacht, steht aber künstlerisch weit hinter den anderen zurück. Hätte die Academy echte Eier, hätte sie an seiner Stelle eh Queen Greta Gerwig für «Barbie» nominiert. Tatsächlich stehen neben Nolan die Chancen für die Französin Justine Triet wohl am besten, die amerikanischen Jurys lieben sie, ihre «Anatomie d'une chute» und ihren Star Sandra Hüller.
Margot Robbie gehört auf diese Liste, das schleckt auch keine von Emma Stone in «Poor Things» manipulierte Geiss weg. Gönnen möchte man die Statuette im Grunde jeder der fünf Nominierten, aber am meisten natürlich schon Emma Stone oder Lily Gladstone.
Stone spielt Bella Baxter, eine frankensteinsche Schöpfung in einer viktorianischen Steampunk-Vision, komplett entfesselt, bar jeder Hemmung, Konvention oder Scham. Gladstone dagegen gibt ihrer Mollie, einer durch Öl reich gewordenen Angehörigen der Osage-Gemeinde in Oklahoma Würde, eine in sich ruhende Sinnlichkeit und tiefe, melancholische Resignation. Zudem wäre sie die erste indigene Schauspielerin, die einen Oscar gewänne. Ob Stone oder Glastone, beide sind unglaublich sehenswert. Doch das gilt auch für die Deutsche Sandra Hüller.
Paul Mescal jedenfalls ist eindeutig für Hüller, die neben «Anatomie d'une chute» auch im ebenfalls nominierten «The Zone of Interest» zu sehen ist.
In dieser Kategorie ist es so eindeutig wie nie: Es kann keinen anderen als Cillian Murphy in der Rolle des Atombombenerfinders Robert Oppenheimer geben, fertig Schluss. Einige munkeln, auch Paul Giamatti als grantiger Internats-Lehrer, dem andere beibringen müssen, dass er im Grunde doch ein goldenes Herz hat und ein gemütlicher Gemütsmensch ist, hätte Chancen. Aber das wäre dann doch nachgerade unfair.
«Barbie» wird den Oscar für den besten Film nicht gewinnen. Aber ganz gewiss einen für den besten Song – entweder ist das «I'm Just Ken» von Mark Ronson oder «What Was I Made For» von Billie Eilish. Doch da Eilish bereits einen Oscar für ihren Bond-Song «No Time to Die» gewonnen hat, sind die Chancen für das Duo Ronson/Ryan Gosling mehr als intakt. Mehr Oscars wird es für den erfolgreichsten und heissest geliebten Film des Jahres 2023 wohl nicht geben.
Dabei hätte ihn America Ferrera schon nur für ihren hinreissenden Monolog tausendfach verdient. Oder – auch wenn wir «Oppenheimer» nicht noch mehr Awards zuschaufeln möchten – die grandios gereifte Emily Blunt als Frau Oppenheimer. Der Oscar in dieser Kategorie wird wie alle anderen Auszeichnungen dieser Saison an Da'Vine Joy Randolph gehen – was richtig ist, sie ist mit Abstand das Beste an «The Holdovers» und verleiht dem Feelgood-Movie mit viel Betonung auf «feel» und «good» die nötige lakonische Erdung. Aber America Ferrera wäre schon sehr toll ...
Okay, Mark Ruffalo wäre auch eine valable Alternative. Aber die Wetten stehen selbstverständlich auf Robert Downey Jr., dem Nolan in «Oppenheimer» endlich auch mal etwas Ernsthafteres, Zurückhaltenderes zutraut als den intelligenten Klamauk, den der Schauspieler sonst routiniert abliefert. Für Nolan spielt er Oppenheimers härtesten Feind, den Leiter der Atomenergiebehörde Lewis Strauss, der Oppenheimer alle Schikanen der McCarthy-Ära angedeihen lässt. Ein Traum von einer darstellerischen Leistung. Doch das gilt auch für Ryan Gosling als Ken. Was für ein komödiantischer Hochgenuss.
Jonathan Glazers glazialer Auschwitz-Horror «The Zone of Interest» ist möglicherweise der wichtigste Film, der derzeit in den Kinos läuft. Eigentlich kann nur er die Kategorie «Internationaler Film» gewinnen. Wenn es nach unserem Patrick Toggweiler ginge (gut, er hat Glazer noch nicht gesehen, findet aber dessen Film «Under the Skin» mit Scarlett Johansson als männermordendem Alien in Schottland super), wäre der Gewinner allerdings Wim Wenders' Meditation über einen japanischen Toiletten-Putzer in «Perfect Days». Zitat Toggi: «Hach, schon nur all die schönen WC-Modelle!»
Es ist gut möglich, dass neben «Barbie» auch «Poor Things» einer der grossen Verlierer der diesjährigen Oscars wird. Robbie Ryan macht in «Poor Things» zwar einen fantastischen und fantasieprallen Job, doch es gibt nur einen Hoyte van Hoytema. Der Niederländer, der 1971 ausgerechnet in Horgen zur Welt kam, fiel bei uns zum ersten Mal 2008 mit dem ungewöhnlichen schwedischen Vampirfilm «Låt den rätte komma in» von Tomas Alfredson auf. Und seit «Interstellar» ist er der Mann, der das richtige Auge für Christopher Nolans epische Visionen hat.
Der 39-jährige Schwede Ludwig Göransson hat 2019 einen Oscar für die Musik von «Black Panther» gewonnen. Er hat auch schon für Alicia Keys und Rihanna Hits produziert und arbeitet seit «Tenet» mit Christopher Nolan zusammen. Auch er gehört gerade zu den nicht stoppbaren «Oppenheimer»-Preise-Einheimsern.
John Williams (92) geht natürlich immer, Spielbergs Hauskomponist ist seit 1968 so gut wie jedes Jahr nominiert, fünf Mal hat er einen Oscar gewonnen, weitere 49 Male nicht, er ist der einsame Rekordhalter unter den Filmkomponisten. Leider ist «Indiana Jones and the Dial of Destiny» eine bare Katastrophe, die auch Williams nicht retten wird.
Fragt sich, ob die Academy nicht doch zum 29-jährigen Briten Jerskin Fendrix und seinem interessant ätzenden «Poor Things»-Score umschwenkt – Fendrix hat mit seinem Filmmusik-Debüt gleich eine Nomination geangelt und dürfte bald einmal zu den Grossen im Business gehören.
Die 96. Oscars finden in der Nacht vom 10. auf den 11. März statt. Die Award-Show mit Moderator Jimmy Kimmel beginnt neu eine Stunde früher als sonst, nämlich um 1 Uhr. Zu sehen auf SRF 2 oder Pro7. Wir sind selbstverständlich für euch dabei.