Und plötzlich geht alles schief. Völlig euphorisch wurde «Emilia Pérez» letztes Jahr in Cannes abgefeiert und am 23. Januar mit 13 Oscar-Nominierungen zum Favoriten für die grösste Nacht aller Hollywood-Nächte gekürt. «Emilia Pérez», das in Frankreich gedrehte Musical über die Transformation eines bösen mexikanischen Drogenbosses in eine engelhafte Kämpferin für die Opfer der Drogenkartelle. Aus einem Killer mit Goldzähnen und Tattoos wird eine gute Fee, deren Haut definitiv weisser ist und die nun mit barmherzigen Taten ihr schlechtes altes Geld wäscht. Eine Geschlechtsangleichung, die im Film nach wenigen Monaten – oder gar Wochen? – perfekt vollzogen ist, wirkt als Zaubertrick.
«Emilia Pérez» ist also ein melodramatisches Musical mit einer trans Heldin. Gedreht von Regisseur Jacques Audiard, einem Franzosen, der weder von Mexiko noch von der queeren Community und erst recht nicht von trans Menschen auch nur den Hauch einer Ahnung hat. Es fragt sich, wovon am wenigsten, möglicherweise von Mexiko, denn da ist die Kitsch- und Klischeedichte tatsächlich am erstickendsten. Mexikanerinnen und Mexikaner, die sich Zeit ihres Lebens gegen Drogenkriminalität engagieren, sind entsetzt über Audiards Leichtfertigkeit und Blauäugigkeit.
Und die trans Szene reibt sich die Augen und fragt sich, was denn all die Filmfestival- und Award-Jurys geritten haben mag angesichts dieses Films, der wirkt wie eine rückwärtsgewandte Parodie. Ob sie meinten, es besonders gut zu meinen? Der Publikumszulauf ist ebenfalls minimalistisch.
Kurz: Ausserhalb von Kritikern und Jurys mag diesen von Netflix mitproduzierten Film fast niemand. Und in den vergangenen Tagen hat er sich selbst derart komplett demontiert, dass er in den Oscar-Statistiken der Wettbüros von einem der ersten auf einen der letzten Plätze gefallen ist. Die Prognose: «Emilia Pérez» wird keinen einzigen Oscar gewinnen.
Was ist passiert? Alte Tweets, diese Untoten des Internets, sind aufgetaucht und sie sind gar nicht gut. Sie gehören ausgerechnet Hauptdarstellerin Karla Sofía Gascón, also Emilia Pérez höchstselbst. Die Spanierin Gascón ist selbst trans und die erste trans Schauspielerin, die je für einen Oscar nominiert worden ist. Und sie hat ausgeteilt ohne Rücksicht auf Verluste.
Zu Tage gefördert (und kurz darauf von Gascón gelöscht) wurden die Tweets, nachdem sich Gascón lauthals darüber beschwert hatte, dass die ko-nominierte Brasilianerin Fernanda Torres in ihrer eigenen Oscar-Kampagne versuchen würde, «Emilia Pérez» zu diskreditieren. Hätte sie sich nicht über Torres geäussert, so wäre niemand auf die Idee gekommen, in ihren alten Tweets zu stöbern.
Dies sind einige ihrer Zielscheiben:
Als Miley Cyrus Ende 2018 Liam Hemsworth heiratete, bedauerte Gascón, die selbst mit einer Frau zusammenlebt, den Schauspieler und nannte Miley «einen schnauzbärtigen Mann» und eine «böse, schreckliche, unnatürliche, lesbische Perversion». Sie war überzeugt, dass die beiden «in die Hölle kommen» würden.
Als ein weisser Polizist am 25. Mai 2020 in Minneapolis dem Afroamerikaner George Floyd so lange die Luft abschnitt, bis er starb, schrieb Gascón: «Mal sehen, ob ich das richtig verstehe: Ein Typ versucht, einen gefälschten Geldschein weiterzugeben, nachdem er Meth genommen hat, ein idiotischer Bulle kommt daher, geht bei der Verhaftung zu weit und tötet ihn, wobei er das Leben seiner Familie und seiner Freunde ruiniert, und dann wird der Typ mit dem Geldschein zu einem heldenhaften Märtyrer.»
2021 gewann «Nomadland» der chinesischstämmigen Regisseurin Chloé Zhao die Oscars für den besten Film, die beste Regie und die beste Hauptdarstellerin. Der Afroamerikaner Daniel Kaluuya wurde bester Nebendarsteller und die Koreanerin Yuh-Jung Youn beste Nebendarstellerin. Gascóns Kommentar: «Die Oscars sehen immer mehr wie eine Zeremonie für Independent- und Protestfilme aus, ich wusste nicht, ob ich ein afro-koreanisches Festival, eine Black-Lives-Matter-Demonstration oder 8M* sehe. Abgesehen davon, eine hässliche, hässliche Gala.»
*8M spanische Abkürzung für den Internationalen Frauentag am 8. März.
Immer wieder machte sie sich über Covid-Impfstoffe lustig, etwa so: «Der chinesische Impfstoff, (der) neben dem obligatorischen Chip zwei Frühlingsrollen, eine Katze, die ihre Hand bewegt, 2 Plastikblumen, eine Pop-up-Laterne, 3 Telefonleitungen und einen Euro für den ersten kontrollierten Kauf enthält.»
Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass Gascón nicht nur gegen den Islam, sondern gegen jegliche «von Idioten erfundene» Religion zeterte, auch gegen das Christentum. Aber ihre Islamophobie steht definitiv zuvorderst. Sie nennt den Islam «abgrundtief ekelhaft für die Menschheit» oder schreibt: «Es tut mir leid, aber habe ich nur den Eindruck, oder gibt es in Spanien mehr Muslime? Jedes Mal, wenn ich meine Tochter von der Schule abhole, sehe ich mehr Frauen, die ihr Haar bedeckt haben und deren Röcke bis zu den Fersen reichen. Nächstes Jahr werden wir statt Englisch Arabisch unterrichten müssen.»
Ein Selfie der während Covid erschlankten Adele in einem Kleid mit Puffärmeln kommentiert Gascón: «Sie hat es mit den Ärmeln übertrieben, oder sie hat sich unters Messer gelegt und man hat die Haut an den Armen nicht entfernt.»
Wen könnte Gascón wohl damit gemein haben? «Sie ist eine reiche Ratte, die den armen Schlucker spielt, wann immer sie kann, und sie wird nie aufhören, ihren Ex-Freund (Justin Bieber) und seine Frau zu nerven.» Genau, die Frau, die in «Emilia Pérez» ihre Frau spielt, nämlich Schauspielerin, Sängern und Milliardärin Selena Gomez, deren riesige Popularität ein wichtiger PR-Booster für den gemeinsamen Film hätte werden sollen. Theoretisch jedenfalls.
Gascón steht zu ihren Verfehlungen, auch wenn sie keine Erklärung für ihre rassistischen und homophoben Attacken liefern mag. Einzig der Kommentar über Selena Gomez sei fabriziert und sonst nichts, sagt sie. Für alle anderen hat sie sich inzwischen entschuldigt, es wird ihrem Film nicht mehr helfen.
Die Oscars finden in der Nacht vom 2. auf den 3. März statt, wir sind wie immer live dabei.