Es ist mit Russell Brands TV- und Radiokarriere wie mit einem katholischen Priester: Er benimmt sich daneben und wird versetzt. Nicht entlassen, bloss versetzt. Irgendein neues Kaff beziehungsweise irgendeine neue Sendung findet sich immer. Wobei Russell Brand nicht einfach versetzt wird, er «benimmt sich schlecht, er wird mit einer Beförderung belohnt, mit einer neuen Show», wie das BBC-Vorstandsmitglied Lorraine Heggessay frustriert feststellt.
Russell Brand, der Süchtige. Der daraus nie ein Geheimnis machte. Er moderierte MTV unter Heroin und war sexsüchtig, als er für Channel 4 arbeitete und für die BBC am Radio redete. Damals brauchte er drei Frauen pro Tag. Später, als er in Amerika auf Tour war, «mehr als fünf», wie eine frühere Geliebte und Mitarbeiterin aussagt.
Eines Tages traf er beim Einkaufen eine 16-Jährige – im Dokfilm «Russell Brand: In Plain Sight» heisst sie «Alice» – und macht sie anfangs behutsam, aber zielstrebig und zunehmend brutal zu seiner Sexsklavin. «In Plain Sight» basiert auf langen Recherchen der Investigativ-Abteilung «Dispatches» von Channel 4 und der «Sunday Times».
Russell Brand war ein Predator, ein Raubtier, vor aller Augen. Und Ohren. Wenn er moderierte oder als Comedian auf einer Bühne stand, war Sex sein wichtigstes Thema. Er machte Witze über Oralsex, bis die Frau würgen müsse. Er fantasierte über die Brüste der Queen. Er zog sich vor laufender Kamera die Hose runter und setzte sich so auf den Schoss seiner Gesprächspartnerin. Er empfing seine Assistentinnen in Unterhose in seinem Hotelzimmer und schlug ihnen Sex vor. Mit einigen hatte er auch Sex, obwohl in seinem Arbeitsvertrag eine Extraklausel stand, dass Sex mit Mitarbeiterinnen tabu ist.
Während einer Radiosendung verspricht er Jimmy Saville, ihm seine (mit Namen genannte) Assistentin nackt und zu restlos allem bereit vorbeizuschicken. Saville stellte sich später als multipler Sexualverbrecher heraus. In einem Telefon-Prank erzählt er dem alten Schauspieler Andrew Sachs genüsslich vom angeblichen Sex mit dessen Enkelin.
Ab und zu muss er auf Geheiss seines Managers in eine Rehab. Auf Instant-Entzug. Wegen seiner Sexsucht. Danach ist er kurzzeitig geläutert, schreibt einen Bestseller darüber und alle sind begeistert, wie transparent, ehrlich und authentisch Russell Brand doch ist. Und besonders für junge britische Prominente, die in den Nullerjahren zu Ruhm kommen, gilt damals die Gleichung: je süchtiger, desto authentischer, exzentrischer, charismatischer. Kate Moss, Pete Doherty, Amy Winehouse, Russell Brand. Menschen als Spektakel.
Mit Kate Moss ist er kurzzeitig zusammen, mit Amy Winehouse befreundet, 2010 heiratet er die amerikanische Pfarrerstochter Katy Perry, nach nur 14 Monaten reicht er die Scheidung ein. Wenig später vergewaltigt er eine junge Frau, die im Film «Nadja» genannt wird, in seinem Haus in L.A., nachdem sie sich geweigert hat, mit ihm und einem Freund Sex zu haben. So jedenfalls hielt es das Rape Crisis Center, das Nadja danach aufsuchte, fest.
Weil er nicht dumm ist, realisiert er seine Übertretungen. Realisiert, dass eine Frau Nein sagt. Tut es trotzdem. Entschuldigt sich am nächsten Tag in reumütigen SMS. Lassen sich die Frauen nicht sofort auf die Entschuldigungen ein, werden die Botschaften allmählich zum Terror. Dann droht er mit seinen Anwälten. Keine der Frauen im Film hat ihn verklagt, und jede der irgendwann missbräuchlichen Beziehungen hat einvernehmlich begonnen. Juristische Folgen wird es für ihn deshalb wohl keine haben.
Eine ehemalige Mitarbeiterin beschreibt es so: Er habe die Frauen als auswechselbare Ware betrachtet, mit der er sich alles erlauben könne, und genau das habe zu einer Atmosphäre geführt, in der auch ernsthafte Übertretungen ohne weiteres möglich waren.
Heute lebt Russell Brand als «Health Guru» ein scheinbar gesundes Leben, ist seit mehreren Jahren verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Auf diversen sozialmedialen Kanälen versammelt er 28 Millionen Follower, sein Vermögen beträgt geschätzte 20 Millionen Franken, allein mit seinem YouTube-Kanal und einem Podcast nimmt er pro Jahr mehrere Millionen ein, wie der «Guardian» schreibt (YouTube hat inzwischen gemeldet, dass Brands Kanal vorerst suspendiert sei). Und hat er früher Geständnisbücher und Anleitungen für die Revolution geschrieben, so schreibt er heute Ratgeber für geistige und körperliche Gesundheit.
Er teilt mittlerweile üblicherweise im rechtsextremen Spektrum angesiedelte Ansichten über die Medien, seine Jünger sind sich sicher, dass «In Plain Sight» der Versuch sei, einen genialen Gesellschaftskritiker mundtot zu machen, sie vergleichen ihn mit Julian Assange und Donald Trump. Er hat sie so erzogen, meint die Journalistin und Globalisierungskritikerin Naomi Klein.
Of course Russell Brand's followers deny the allegations. He has groomed an audience to deny/disbelieve everything they see and hear, which is very different from healthy skepticism. This knee-jerk denialism is precisely why people with plenty of skeletons in the closet love…
— Naomi Klein (@NaomiAKlein) September 18, 2023
Seine Verteidiger nach den Anschuldigungen der Frauen im Film heissen jetzt u. a. Elon Musk («Ich unterstütze Russell Brand. Dieser Mann ist nicht schlecht.»), Andrew Tate («Wie wir hat Russell Brand den Kampf mit der Matrix aufgenommen, jetzt schlägt sie zurück!») und Tucker Carlson («Kritisiere die Pharmakonzerne, stelle den Krieg in der Ukraine in Frage, und du kannst ziemlich sicher sein, dass dies passieren wird»). Auch Russell Brand sieht hinter den Vorwürfen der Frauen, die er natürlich dementiert, «eine andere Agenda» am Werk.
Gelegentlich beugten sich die Verantwortlichen besorgt über das Phänomen Russell Brand und beratschlagten, wie sie ihn besser von den Frauen fernhalten könnten. Und beschlossen, die Frauen aus dem Verkehr zu ziehen. Mit Russell Brand machten sie Geld. Die Frauen machten bloss Ärger.
PS: Channel 4 fordert weitere mögliche Betroffene auf, sich zu melden, was sie auch tun. Der «Independent» hat einen Liveticker zum Thema aufgeschaltet. «Alice» hat ein Interview gegeben, in dem sie beschreibt, wie er sie in einem Dienstwagen der BBC von der Schule habe abholen lassen. Brands Vater, der während seiner Kindheit abwesend war, aber seinen Sohn mit 16 auf einem Thailand-Trip in die Welt der Bordelle einweihte, unterstützt ihn. Ein altes Interview mit Dannii Minogue, der Schwester von Kylie, ist aufgetaucht, in dem sie Brands Sexsucht ganz klar benennt. To be continued.
Aber wahrscheinlich ist es ja gerade dieses Narzisstische und Soziopathische, das auf viele Leute so charismatisch und verführend wirken muss. Ich weiss es wirklich nicht bzw. finde diese Celebrity-Versessenheit ganz allgemein sehr schwierig nachzuvollziehen. Fand einen Russell Brand schon damals eher irgendwie abstossend und unsympathisch und hat mich daher auch nie wirklich gross interessiert... 🤷♀️