Eine junge Frau, die realisiert, dass ihr Mann ein Arschloch ist und sich nach der Trennung zuerst selbst neu finden muss – «North of North» erfindet das Rad nicht neu. Die Serie bringt aber einen neuen Twist, denn die Story spielt in Ice Cove, einer kleinen Stadt in der Arktis, und die Hauptfigur ist eine moderne Inuk-Frau.
Siaja (gespielt von Anna Lambe) ist 26 und will mehr als nur Mutter und Hausfrau sein. Nach der hässlichen und öffentlichen Trennung von ihrem manipulativen Mann, dem Town-Golden-Boy, ergattert sie einen Job im Community-Center.
Als wäre die Trennung nicht genug, verändert sich ihr Leben grundlegend durch die Ankunft von Alistair und Kuuk, zwei Analysten aus Ottawa, die einen Bericht über die Eignung der Stadt für eine neue arktische Forschungsstation erstellen wollen.
Das Verhältnis zwischen Siaja und ihrer Mutter Neevee (gespielt von Maika Harper) ist angeschlagen. Dass ihre Tochter nach ihrer Trennung zurück zu ihr ziehen soll, passt Neevee gar nicht in den Kragen.
Schnell wird klar, dass die beiden ein schwieriges Verhältnis hatten, weil Neevee früher alkoholabhängig war. Eine Sucht, mit der viele indigene Völker in Nordamerika zu kämpfen haben. Etwa 11 Prozent aller Tode stehen im Zusammenhang mit Alkohol. Das ist fast doppelt so viel im Vergleich zum globalen Durchschnitt.
Ein Fakt, der nicht erwähnt wird, denn «North of North» ist eine Serie, die den Zuschauenden nicht alles bis aufs kleinste erklärt – und das ist auch okay so. Als Zuschauer benötigst du keinen Leitfaden für das Leben der Inuit. Wer sich alle acht Folgen anschaut, wird den Kontext verstehen.
Dass die moderne Inuit-Kultur in den Medien, die wir konsumieren, vertreten ist, kommt nicht oft vor. Umso erfrischender ist es, in «North of North» Einblicke in eine ziemlich abgeschottete Gesellschaft zu bekommen.
Die meisten Kostüme wurden von Inuit-Künstlern angefertigt. Auch die Materialien stammen von der lokalen Community. Das Nähen ist ein Handwerk, das bei den Inuit oft von Mutter zu Tochter weitergegeben wird – es ist eine Kunst, mit der sie ausdrücken, wer sie sind.
Doch nicht nur die Kleider (und Ohrringe!) sind die Serie über ein echter Hingucker. Auch die Soundtracks wurden von Inuit-Künstlern aufgenommen und sind oft Coverversionen von Pop-Hits.
Und während North of North nie zu weit von seiner sonnigen Stimmung abweicht, werden allmählich auch einige düstere Töne angeschlagen: die Vergangenheit des indigenen Volkes im Norden Kanadas. Die Regierung entriss über Jahrzehnte tausenden Inuit-Müttern ihre Kinder und steckte diese in Internate. Dort sollten sie die Traditionen europäischer Einwanderer erlernen. Erst 2021 wurde ein Massengrab von 215 Kindern von kanadischen Ureinwohnern entdeckt. Kinder, die bis dahin als verschollen galten.
Die Familien, deren diese Schicksale erlebten, leben noch heute und das Trauma sitzt tief. Deshalb auch verständlich, dass in der sonst eher locker gehaltenen Serie dieses Thema zur Sprache kommt und das Verhalten einer Person sehr viel klarer macht. Auch wenn eine Szene fast schon als zu wenig scheint.
Die Schauspieler sind – bis auf Mary Lynn Rajskub von «It's Always Sunny in Philadelphia» – weitgehend unbekannt. Zumindest ausserhalb von Kanada. Erfrischend also in einer Zeit von Hollywood-Blockbustern, die immer die gleichen Stars casten (und ja, ich schaue euch an, Paul Mescal, Timothée Chalamet und Pedro Pascal).
Von der kleinsten Nebenrolle bis hin zu den Hauptdarstellern überzeugen wirklich alle und als Zuschauerin bekomme ich das Gefühl, dass alle mit viel Herzblut mitgemacht haben, um ihre Charaktere auf den Bildschirm zu bringen.
In Kombination ergeben all diese Punkte ein lebhaftes, detailliertes Porträt eines Ortes. Und zwar eines, das von den Schöpferinnen Stacey Agloc MacDonald und Alethea Arnaquq-Baril, beides Inuit-Frauen, die in der Arktis leben, mit der wissenden Perspektive einer Insiderin konstruiert wurde.
Die Serie gibt einen erfrischenden Einblick in das moderne Leben der Inuit. Die Charaktere (auch wenn manchmal ein wenig überspitzt dargestellt) sind nahbar und als Zuschauerin verbringt man gerne Zeit mit ihnen. Gerade die generationenübergreifende Geschichte zwischen Siaja, Neevee und Bun oder die albernen Momente mit Millie und Colin machen «North of North» zu einem wahren Vergnügen.
Eine zweite Staffel wurde noch nicht angekündigt, doch Ice Cove ist noch voller Geschichten, die darauf warten, erzählt zu werden.
«North of North» ist auf Netflix verfügbar.