Er ist ein typischer «Spränzel». Schmal, schmächtig, in Amerika nennt man ihn einen «noodle boy». Derart nudelig ist er, dass er in der Shakespeare-Adaption «The King» auch mit allen Teilen einer Rüstung bestückt aussieht wie die Karikatur eines Ritters. Und dass er für seine Rolle als Bob Dylan in «A Complete Unknown» zehn Kilos zunehmen musste. Dabei ist Dylan auch nicht gerade ein Fetzen von einem Mann. Wie er das geschafft habe, will eine Journalistin an der Berlinale von Chalamet wissen. «Ich habe viel gegessen und so.» Dumme Frage, kurze Antwort.
Der Körper ist für einen Schauspieler nur das eine. Das andere kommt von innen und lässt sich wohl am ehesten mit dem wuschigen Begriff «Magie» umschreiben. Und wer die Magie beherrscht, der kann restlos alles spielen. Wie Timothée Chalamet. Sein Schauspiellehrer von der La Guardia High School in New York beschreibt Chalamets Kunst so: Er habe zugleich Style und Flair, aber auch einen direkten Zugang zu seinen Gefühlen, und er lasse das Publikum stets in einer Spannung hängen, so, als würde er eine Tür gleichzeitig öffnen und zuschlagen. Er sei quasi ein enorm zugänglich scheinendes Enigma.
Chalamet selbst will so wenig über seine Tricks reden wie Bob Dylan: «Es geht niemanden was an, wie ich das mache, es ist im Rahmen des Gesetzes.» Etwas hat er vor zehn Jahren allerdings in einem Image-Film seiner Schauspielschule verraten: Die Grundlage seiner Arbeit sei, keine Angst davor zu haben, immer und immer und immer wieder auf die Fresse zu fallen. Wer keine Angst vor Selbstentblössung bis zur Peinlichkeit und vor der eigenen Verletzlichkeit hat, bleibt am Ende unverletzbar. Eine einfache, effiziente List. Und ein sicherer Weg zum Lustgewinn.
Denn das ist das Umwerfende an Chalamet: diese schiere Freude, diese sichtbare Lust an seiner Arbeit und allem, was damit zusammenhängt, er wird dann zum fabelhaften Schokoladen-Designer Willy Wonka und zugleich zum Kind in Wonkas Zuckerwunderland. Niemand geniesst rote Teppiche und Fan-Nähe so entspannt und so originell verkleidet wie er, niemand blödelt so befreit in «Saturday Night Live» (SNL) wie er. Der Mann scheint frei von allen Allüren.
Und selbst seine Freundin Kylie Jenner, die 2018 zur jüngsten Self-made-Milliardärin aller bisherigen Zeiten gekürt worden war und sich lange durch eine gewisse aufgepumpte Überanstrengung in Sachen Erscheinungsbild hervorgetan hatte, wirkt an seiner Seite lockerer. Bald zwei Jahre sind die beiden zusammen, und so verliebt, wie sie vor wenigen Tagen an der Berlinale auftraten, muss man sagen: Passt. Auch wenn sie den wenigsten seiner Fans passt. Vor Kylie Jenner war er übrigens mit seiner «The King»-Königin Lily-Rose Depp liiert. Und auf der La Guardia High School mit Madonnas Tochter Lourdes. The sky's the limit. In jeder Hinsicht.
Kylie Jenner & Timothee Chalamet. pic.twitter.com/y638UNuHtu
— comfort kylie stans (@kyliejgfs) February 15, 2025
Während seiner Ausbildung spielte der Sohn einer amerikanischen Tänzerin und eines französischen Journalisten in ein paar TV-Serien kleinere Rollen, in «Law & Order», «Royal Pains», «Homeland». Sein Ziel war, Action-Held zu werden. Er bewarb sich für «Maze Runner» und für «Divergent», er wurde abgewiesen mit der Begründung, den richtigen Spirit im falschen Körper zu haben. Er versuchte zuzunehmen. Es gelang ihm nicht. Eine Teenie-Rolle in «Interstellar» war das Grösste.
Dafür gelang ihm sofort der Sprung ins Arthouse-Kino: In «Call Me By Your Name» von Luca Guadagnino spielte er einen jungen Schwulen, der in einen Pfirsich masturbiert, und kreierte damit den «American Pie»-Kuchen-Wichs-Moment fürs Arthouse-Publikum; für Greta Gerwig wurde er zum Entjungferer in «Lady Bird» und zum Romantiker in «Little Women»; er drehte mit Woody Allen und Wes Anderson – und dann kam «Dune» von Denis Villeneuve. Und «Wonka». Und «Dune: Part Two». Und Scorsese engagierte ihn wenigstens für eine Parfüm-Werbung.
Chalamets Publikumszahlen, die schon zuvor überraschend gut gewesen waren, verzehnfachten sich. Die riesigen Kisten, von denen er geträumt hatte, hoben mühelos ab, auch dank ihm. Er war jetzt nicht nur ein aussergewöhnlich guter Schauspieler, er war jetzt ein Magnet.
Fünfeinhalb Jahre lang hatte der Magnet nebenbei eine Mission: Er wollte Bob Dylan, dessen Leben er als «Landkarte für jeden Künstler» und als persönlichen «Leitstern» betrachtet, seiner eigenen Generation nahebringen. Eigentlich hätte seine Vorbereitungsphase auf das Biopic von James Mangold («Walk the Line») bloss wenige Monate dauern sollen, doch dann kamen die Pandemie und der Drehbuchautoren-Streik, alles verzögerte sich, und plötzlich hatte Chalamet jahrelang Zeit, sich so richtig mit einem Mann und seiner Kunst zu befassen, den er vorher nur vom Hörensagen kannte.
Er lernte, Gitarre und Mundharmonika zu spielen, zu reden, zu singen und zu rauchen wie Dylan, nur auf seinen Alkoholkonsum verzichtete er, schliesslich musste er neben dem «Studium» auch noch auf anderen Baustellen arbeiten. In jeder freien Minute während des «Dune»-Drehs sass er in seinem Paul-Atreides-Anzug da und übte Dylan-Songs. Er schaute sich Videos von Dylan und Joan Baez im Duett tausendfach an, lernte jede Augenbewegung, jedes Nervenzucken auswendig und fragte sich dann: Und wie bringe ich mich da nun mit ins Spiel? Wie vermähle ich Dylan mit Chalamet, wie transzendiere ich die reine Mimikry?
Egal wie er das gemacht hat, das Resultat ist sensationell. Sein Bob Dylan ist verletzlich, ist verletzend, ist ein Arschloch, ein Freund, ein Rätsel, ein Genie, ist genau der aufrüttelnde Künstler und kreative Revolutionär, den die 60er-Jahre brauchten, selbstvergessen, selbstversessen, ein Mensch in seiner eigensten Welt, der alles tut, um diese zu beschützen. Und man merkt, wie Chalamet seine eigene Geschichte der kreativen Selbstfindung in jene von Dylan hineingiesst, wie er den anderen blind spürt und seine Rolle nach all den Recherchen ganz leicht, scheinbar mühelos, ohne jedes forcierte Overacting ausfüllen kann.
Chalamet hält Dylan definitiv für die Rolle seines Lebens, er fürchtet, dass da nichts vergleichbar Grosses mehr kommt, eine Tragödie, er wird ja heuer erst gerade 30 Jahre alt.
Natürlich wurde er an der Berlinale auch nach möglichen Parallelen zwischen den bewegten 60er-Jahren und der chaotischen Gegenwart gefragt und danach, ob es für ihn irgendeine dylaneske Botschaft gebe. «In seiner Musik liegt eine Warnung vor allen Erlöserfiguren», antwortete er, «eine Vorsicht vor jedem, der sagt, er habe eine Lösung. Das war auch die Botschaft von Frank Herbert, als er ungefähr zur gleichen Zeit ‹Dune› schrieb – wahrscheinlich war er auf Acid, als er an der Schreibmaschine sass.» In «Dune» wird Chalamet als Paul Atreides selbst zur Erlöserfigur – und zum faschistischen Führer.
«A Complete Unknown», ein total Unbekannter also, erzählt die ersten fünf Jahre von Dylans Karriere, nachdem er mit 19 von Minnesota nach New York ausgewandert war. Erzählt von seiner Freundschaft mit dem schwerkranken Idol Woodie Guthrie und mit dem väterlichen Ermöglicher Pete Seeger (ein herzzerreissender Edward Norton). Von den ersten Auftritten als Folk-Sänger in kleinen Clubs und seinem schnellen, irren Aufstieg, von seiner Immerwiederliebe zur damals berühmteren Joan Baez (Monica Barbaro), einer Liebe, die beim gemeinsamen Musizieren am intensivsten ist. Und erzählt schliesslich vom finalen Betrug am Folk, als Dylan sich 1965 am Newport Folk Festival zum ersten Mal mit einer elektrischen Gitarre auf die Bühne stellte.
There’s a movie about me opening soon called A Complete Unknown (what a title!). Timothee Chalamet is starring in the lead role. Timmy’s a brilliant actor so I’m sure he’s going to be completely believable as me. Or a younger me. Or some other me. The film’s taken from Elijah…
— Bob Dylan (@bobdylan) December 4, 2024
Es ist ein schöner, ganz linear, ganz konventionell erzählter Film, nichts Experimentelles wie «I'm Not There» (2007), als Todd Haynes ein Dylan-Kaleidoskop aus acht Schauspielerinnen und Schauspielern präsentierte. Mangold zeigt Dylans frühe Jahre so, wie sie wahrscheinlich wirklich waren, sie beruhen auf dem Dylan-Buch «Dylan Goes Electric!» von Elijah Wald. Und auf Dylans sehr aktiver Mithilfe beim Drehbuch (er ist auch ausführender Produzent des Films).
Nur einen Direktkontakt gab es bis heute noch nicht: den von Bob Dylan und Timothée Chalamet. Und wenn sie sich treffen würden? «I would probably try to out-bob him», sagt Chalamet im Gespräch mit Anderson Cooper. Er würde versuchen, noch cooler als Dylan zu sein. Keine Verehrung zeigen. «Über das Wetter sprechen. Oder über sein Lieblingssandwich.»
«A Complete Unknown» ist für 8 Oscars nominiert, u. a. in den Kategorien Film, Regie, Haupt- und Nebendarsteller, und läuft ab dem 27. Februar im Kino.