Regisseur Stefan Haupt: «Ich habe Max Frischs Gebot gebrochen»
Mit «Stiller» (1954) wurde Max Frisch zum Star. Bis heute fasziniert der Roman, der längst als Schweizer Klassiker gilt – trotzdem wurde er bisher nie verfilmt. Der Zürcher Regisseur Stefan Haupt («Der Kreis», «Zwingli») hat das nun geändert.
Am vergangenen Sonntag, im Rahmen des Zurich Film Festivals (ZFF), feierte Haupts «Stiller»-Verfilmung ihre Schweizer Premiere. Einige Stunden vor der ZFF-Premiere sitzt der 64-Jährige im Konferenzraum eines Zürcher Hotels und empfängt dort zum Interview.
Stefan Haupt, als ich mit 16 den Roman «Stiller» in der Schule lesen musste, habe ich wenig bis nichts verstanden. Wie würden Sie ihn einem 16-Jährigen erklären?
Stefan Haupt: An welcher Schule war das?
An einem Basler Gymnasium.
Ah, das überrascht mich. Ich glaubte bisher, dass man in Schweizer Gymnasien von Max Frisch kaum «Stiller» liest, sondern «Homo Faber». Jedenfalls würde ich einem Lehrer eher abraten, «Stiller» schon mit 16-Jährigen zu lesen. Und zwar nicht, weil ich ein älterer Besserwisser bin, sondern weil der Roman so dicht ist und es wohl einfachere Einstiege in tolle Literatur gibt. «Stiller» einem 16-Jährigen zu erklären, fände ich deshalb recht schwer.
Sie sind der erste Regisseur, der den Roman verfilmt hat. Was hat Sie an diesem 70 Jahre alten Stoff gereizt?
Mich hat interessiert, wie viele seiner Themen auch heute noch aktuell sind. Frischs Hauptfigur Stiller beharrt darauf, nicht der zu sein, den andere in ihm sehen. Dazu fällt im Roman der wichtige Satz: «Du sollst dir kein Bildnis machen.» Diese Frage, ob man jemanden auf eine Identität festlegt oder ihm die Wahl lässt, sich zu verändern – da sehe ich eine spannende Parallele zur heutigen Selfie-Kultur, auch wenn der Film das nicht explizit sagt. Heute macht man ständig Bilder von sich, schaut in die Kamera und überlegt, wie man von der Aussenwelt wahrgenommen wird. Damit bricht man eigentlich das Gebot, sich kein Bildnis zu machen, in Bezug auf sich selbst.
Trotzdem haben Sie darauf verzichtet, Ihre Umsetzung in die Gegenwart zu verlegen. Stattdessen zeigt Ihr Film die Zeit der 1940er und 50er-Jahre, in denen schon der Roman spielt.
Wir haben uns überlegt, ob wir den Stoff modernisieren wollen. Aber die ganze Anlage der Geschichte hätte nicht mehr funktioniert. Dass Stillers Pass eine Fälschung ist, würde man heute sofort merken können und Stiller danach anhand von DNA-Proben identifizieren. Ausserdem gab es bisher noch keine Verfilmung des Romans, und beim ersten Mal darf man eng an der Vorlage bleiben, finde ich.
Im Roman steht das von Ihnen erwähnte und im Film zitierte biblische Gebot: «Du sollst dir kein Bildnis machen.» Als Filmregisseur sind Sie aber auf Bilder angewiesen und daher gezwungen, das Gebot zu brechen. Was kann der Film, was der Roman nicht kann?
(lacht) Ich bekenne mich schuldig, dass ich dieses Gebot gebrochen und versucht habe, der Romanhandlung Filmbilder zu geben. Dazu muss ich sagen: Alex Buresch, mein Drehbuch-Co-Autor und ich, wir hatten zwei Grundhaltungen: Zum einen hatten wir keinen Anspruch, besser zu sein als das Buch, das ich enorm schätze und respektiere. Gleichzeitig wollten wir aber dem Roman nicht hörig sein und uns jegliche Abänderung verbieten, sondern wir wollten ihn so umwandeln, dass unser Film als eigenständiges Werk funktioniert.
Die vielleicht grösste Herausforderung bei der Verfilmung des Romans ist die Darstellung des Protagonisten: Der aus Amerika in die Schweiz heimgekehrte Stiller nennt sich White und bestreitet, Stiller zu sein – aber Frisch blendet auch zurück in Stillers Vergangenheit. Sie haben das Problem mit zwei Schauspielern gelöst, die beide Stiller spielen. Wie kamen Sie auf die Idee?
Das war eine Idee von Alex. Irgendwann wurde uns bewusst, dass der Roman ja damit spielen kann, dass wir beim Lesen keine fixen Gesichter vor uns haben, und es deshalb lange im Vagen bleibt, ob die Hauptfigur White nun Stiller ist oder nicht. Der Film aber muss die Gesichter zeigen. Als dann Albrecht Schuch als White im Gespräch war, kam mir plötzlich Sven Schelker in den Sinn, mit dem ich schon bei «Der Kreis» zusammengearbeitet hatte. Mir fiel auf, dass Albrecht und Sven grosse Ähnlichkeiten haben und ich rechne es den beiden hoch an, dass sie sich auf unsere Idee eingelassen haben.
Der Wunsch, den Stiller antreibt, ist ja der, ein anderer zu sein oder sich verwandeln zu dürfen. Kennen Sie das auch?
Sie etwa nicht?
Doch, sicher.
Eben, ich auch. Und bei Frisch ist es verrückt, wie sehr sich das Thema durch seine Bücher zieht. Ich selbst habe mit 17 ein Austauschjahr in den USA gemacht. Damals gab es weder Handy noch FaceTime. Ich habe nur ein einziges Mal mit meinen Eltern telefoniert und konnte zu Beginn nicht besonders gut Englisch. Aber nach einem Jahr in dieser Welt, in der niemand Deutsch sprach, habe ich Englisch gedacht und geträumt. Als ich dann zurück in die Schweiz kam, hatte ich einen Kulturschock und merkte, dass ich in diesem Umfeld ein anderer geworden war.
Sozusagen «Stiller Light».
Ja, genau, das kam mir während des Drehs immer wieder in den Sinn.
In «Stiller» und anderen Ihrer Filme wie «Zwingli», «Der Kreis» oder «Utopia Blues» gibt es ein wiederkehrendes Motiv: Der Mann in der Krise. Wie wurde dieses sehr aktuelle Thema zu Ihrem Leitmotiv?
Wenn man selbst Filme macht, muss man nicht gleichzeitig einordnen, wieso man etwas tut. In dieser Zuspitzung habe ich das so noch nie gehört, dafür oft die Frage, wieso Zürich in meinen Filmen eine so grosse Rolle spielt. Aber natürlich hat das Thema mit mir zu tun, natürlich bin ich lebenslänglich in einer Krise (lacht) – mit sehr vielen schönen und guten Momenten.
Wie äussert sich diese Krise?
Nein, das war jetzt Koketterie. Aber die Frage nach dem Mannsein ist schon eine wichtige für mich. Als ich jung war, erlebte ich mit, wie der Feminismus immer stärker wurde, was ich nur unterstützen kann, weshalb aber auch eine Art Vakuum entstand in Bezug auf positive Mannsbilder. Da war der Wunsch nach Softies, nach gefühlvollen Männern, die weinen können – und da war das Feindbild vom Macho.
Wo auf diesem Spektrum waren Sie?
Viele Frauen fanden es spannend, mit mir zu sprechen, und meinten, ich sei wie ein Bruder. Sie waren froh um einen zugänglichen Mann, mit dem sie reden konnten, und erzählten mir dann von ihrem Freund, der zeitweilig ein übler Macho sei, aber mit dem sie trotzdem zusammen waren. Und ja, die Frage nach neuen, positiven, starken Mannsbildern ist noch lange nicht beantwortet. Und hat gerade heute eine grosse Relevanz, wo misogyne, autoritäre Patriarchen sich wieder in den Vordergrund drängen.
Die stärkste Figur in Ihrem «Stiller» ist auch kein Mann, sondern Stillers Frau Julika, gespielt von Paula Beer. Im Gegensatz zu Stiller ist ihre Geschichte lebendiger, vollständiger. Wie sehr hat bei ihrer Figur das Drehbuch eine Rolle gespielt und wie sehr Paula Beer?
Beides. Ich muss sagen, ich finde alle Schauspielerinnen und Schauspieler im Film grossartig. Und ich hatte wirklich unglaubliche Freude an der Zusammenarbeit mit Paula Beer. Sie spielt mit einer so grossen Leichtigkeit und Tiefe zugleich, womit sie dieser Julika sehr viel schenkt. Aber wir haben auch auf Drehbuchebene geschraubt: Im Roman kommt Julika entschieden schlechter weg. Und das fanden wir aus heutiger Sicht nicht mehr produktiv. Handkehrum wollten wir auch nicht übers Ziel hinausschiessen und sie zu einer unglaublichen Powerfigur machen, sondern ihr trotzdem eine Fragilität lassen – was Paula eben ganz toll drauf hat.
Zum Schluss: Wie interpretieren Sie das Ende von «Stiller»?
Frischs ursprüngliches Ende war ja ein als Unfall getarnter Selbstmord Stillers. Auf Anregung von Peter Suhrkamp schrieb er das aber um zur Variante, die wir heute kennen, in der Julika sterben muss. Wir hatten das lange im Drehbuch drin, bis wir uns plötzlich anschauten und meinten: Hey, es gab schon zu viele Romane und Bücher, in denen die Frau sterben muss, während der Mann irgendwie weiterklüngelt. Und da fanden wir: Das ist heutig, modern, oder im besten Sinn frisch, dass wir den Ausgang offenlassen.
«Stiller» läuft ab dem 16. Oktober in den Schweizer Kinos.