Lisa ist zwei Jahre alt, als sie aufhört, zu essen. Während Wochen hat sie keinen Hunger. Die Eltern stehen vor einem Rätsel, wollen aber nicht gleich zum Arzt rennen. Doch Lisa wird dünner und dünner.
«Irgendwann wurde uns klar: Da stimmt etwas nicht», sagt Vater Sascha, der zum Mittagessen eingeladen hat. Er hat Ratatouille mit Reis gekocht. Für seine beiden Kinder gibt es Kartoffelstock mit Fischstäbchen, die sie eilig verschlingen.
Im Sommer 2020 kann Sascha noch so leckere Sachen auf den Tisch stellen: Lisa isst einfach nichts. Auch Milch will sie nicht trinken. Sie wird immer schlapper, die Eltern machen sich immer grössere Sorgen.
Sie suchen den Kinderarzt auf, der seine Ausbildung in Deutschland gemacht hat. Er kommt schnell auf eine genetische Krankheit zu sprechen, welche die beiden Kinder haben: die Neurofibromatose.
In Deutschland sei es so, dass man bei dieser Erkrankung standardmässig ein MRI mache, erklärt der Arzt den Eltern. In der Schweiz sei das nicht im Protokoll, obschon es bei einer Neurofibromatose ein leicht erhöhtes Krebsrisiko gebe. Er empfehle deshalb, ein MRI des Kopfes zu machen.
Die Eltern wollen nicht mehr weiter zusehen, wie sich Lisas Zustand verschlechtert, und stimmen zu. Prompt liefert das MRI eine Erkenntnis: In Lisas Kopf befindet sich ein Tumor. Er ist so gross wie ein Golfball.
Der Tumor drückt auf den Hypothalamus, weshalb Lisa keinen Hunger mehr verspürt. Auch auf das Chiasma Opticum, die Sehnervenkreuzung, übt der Tumor Druck aus. Wächst er weiter, läuft Lisa Gefahr, zu erblinden.
Das Problem: Der Tumor befindet sich mitten im Gehirn und lässt sich deshalb nicht operativ entfernen. Ein Eingriff würde zu viele Schäden verursachen.
«Am Anfang ist das ein riesiger Schock, wenn die Ärzte sagen, dass der Tumor sich nicht entfernen lässt», erzählt Sascha. «Man fragt sich: warum gerade wir? Warum gerade Lisa? Die ersten Tage waren für mich die Hölle.»
Etwa eine Woche hadert Sascha mit dem Schicksal, dann fasst er neuen Mut. «In einem solchen Moment gibt es nur eine Richtung», erzählt er. «Nach vorne.» Er jogge oft und habe Triathlons bestritten, so der Mittvierziger. «Da kannst du manchmal auch nicht mehr und machst trotzdem weiter.»
Die Ärzte informieren die Familie über eine Chemotherapie, mit der das Wachstum des Hirntumors theoretisch angehalten werden kann. Die Erfahrungen damit sind gut, jedoch schlägt die Therapie nicht bei allen Kindern an.
Sascha und seine Frau Viola entscheiden sich für die Therapie. Allerdings kann sie nicht sofort gestartet werden. Lisa muss an Gewicht zulegen. Sie erhält eine Magensonde, über die sie künstlich ernährt wird. Dreimal täglich müssen Lisas Eltern ihr Flüssignahrung zuführen. Der Prozess dauert jeweils 45 Minuten.
Lisa kann nicht mehr in die Kita. Wegen der Magensonde ist dies zu heikel. Die Betreuung übernimmt Mutter Viola, welche deswegen nicht mehr arbeiten kann. «Die Full-Time-Betreuung schmerzt die Familien von krebskranken Kindern oft auch finanziell», erzählt Sascha. «In vielen Fällen muss ein Elternteil den Job aufgeben.»
Ende Sommer 2020 startet die Chemotherapie, Lisa hat dank der künstlichen Ernährung wieder genug Kraft.
Dennoch denkt die Fünfjährige nicht gerne an die Magensonde zurück, die sie fast ein halbes Jahr tragen muss. «Das ist ekelhaft», sagt Lisa. Sie zeigt auf ein Foto, auf dem ein Schlauch aus ihrer Nase ragt. «Ich hoffe, mein Papa muss das nie haben.»
72 Mal muss Lisa ins Kinderspital zur Chemotherapie-Sitzung. Jede Woche einmal, während anderthalb Jahren. Eine Sitzung dauert rund 15 Minuten. Die Ärztinnen legen Lisa einen Portkatheter. Die Medikamente gelangen durch diesen Eingang direkt in die Vene. Der «Port» befindet sich noch heute in Lisas Brust.
Während der Behandlung grassiert in der Schweiz das Coronavirus – für das Kinderspital in Zürich eine schwierige Situation. «Das Pflegepersonal war angespannt», sagt Sascha. «Für die krebskranken Kinder ist das Coronavirus gefährlicher als für gesunde Kinder. Denn ihr Immunsystem ist geschwächt.»
Nach den ersten Sitzungen ist es Lisa oft schlecht und sie muss sich übergeben. Dabei kommt es vor, dass die Magensonde herausrutscht. Für Lisa bedeutete dies: zurück ins Spital, erneut den Schlauch legen, wieder das «ekelhafte» Gefühl. Manchmal sogar zweimal am Tag.
Es sei jedoch erstaunlich, wie viel Kraft Lisa in der Situation entwickelt habe, sagt Sascha. «Sie hat das nicht wie wir verarbeitet. Sie ist einfach ins Spital gegangen und hat mitgemacht. Die Behandlung war etwas Normales und sie hat Tag für Tag genommen.»
Irgendwann lernen die Eltern, wie man die Magensonde selber einsetzt. Die Aufgabe setzt Sascha zu. «Deine Tochter ist zweieinhalb Jahre alt und du musst ihr bei vollem Bewusstsein den Schlauch durch die Nase in den Magen führen. Das ist heftig.»
In dieser schwierigen Zeit finden Sascha und Viola Halt bei der Stiftung Sonnenschein, die krebskranke Kinder unterstützt. Sie tauschen sich im Sommerlager in der Lenzerheide mit anderen betroffenen Familien aus und merken, dass sie mit ihrem Schicksal nicht alleine sind. «Dieser Austausch war für mich sehr wichtig», sagt Sascha. Jedes Jahr erkranken rund 300 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren an Krebs.
Die ersten Wochen hat die Familie keinerlei Anhaltspunkte, ob die Therapie bei Lisa anschlägt. Erst ein MRI nach drei Monaten soll erste Erkenntnisse liefern. Die Anspannung vor diesem Termin ist bei Sascha und der Familie gross.
Doch die Angst weicht einer ersten Erleichterung. Die Chemotherapie wirkt. «Die Freude war riesig», so Sascha.
Trotz des ersten Erfolgs ist der Weg noch lang. Erst ein Sechstel der Therapie ist durch. Es ist jene Zeit, als in der Schweiz wegen des Coronavirus zum zweiten Mal die Restaurants schliessen müssen. An einem Morgen bleibt nicht nur die Gastronomie geschlossen, auch beim Öffentlichen Verkehr geht nichts mehr. Es hat so viel geschneit, dass es in Zürich kein Vorwärtskommen gibt. Doch Lisa muss zur Therapie ins Kinderspital.
Sascha will den Termin auf keinen Fall verpassen, schnappt sich einen Schlitten und zieht seine Tochter eineinhalb Stunden lang durch die Stadt. Die Therapie findet auch an diesem Tag statt. Es gibt weiterhin nur eine Richtung: nach vorne.
Die Therapie prägt nicht nur Lisa und die Eltern, sondern auch ihren Bruder, der zwei Jahre älter ist. Er fragt sich, weshalb seine Schwester immer ins Spital muss und seine Eltern so besorgt sind. «Lisa hat die Chemotherapie den Umständen entsprechend leicht weggesteckt, aber für ihren Bruder war das nicht so leicht», sagt Sascha.
Lisa wird jetzt immer stärker. Die Magensonde kann entfernt werden. Allerdings können die Ärzte nicht garantieren, dass sie nach sechs Monaten wieder richtig essen kann.
Bis zum Ende der Chemotherapie muss Lisa alle zwei bis drei Monate zur Kontrolle ins MRI. Vor diesen Terminen steigt jeweils die Nervosität, doch die Ärztinnen können Erfreuliches mitteilen: Bei Lisa funktioniert die Chemotherapie ausgezeichnet.
Der Tumor hört nicht nur auf zu wachsen, er schrumpft sogar. «Wir hatten riesiges Glück, dass Lisa so gut auf die Therapie reagierte», sagt Sascha. Nach 18 Monaten und 72 Sitzungen geht die Therapie zu Ende. Der Tumor ist zwar immer noch in Lisas Kopf, doch im besten Fall bleibt er jetzt bei dieser Grösse. Er «schlummert» – wie Sascha gegenüber seiner Tochter sagt.
Heute führt Lisa ein fast normales Leben. Durch die vielen Begegnungen mit Pflegerinnen und Ärztinnen ist sie erwachsenen Personen gegenüber äusserst aufgeschlossen. Schnell ergreift sie die Hand von Besuchern und sagt: «Ich will neben dir sitzen.» «Das hat sie während all der Therapien gelernt», sagt Sascha schmunzelnd.
Stolz zeigt Lisa ihr Mitbringsel aus dem Skiurlaub. «Ich habe schon zwei Medaillen gewonnen», erzählt sie und strahlt übers ganze Gesicht. Die Skirennen findet sie lustiger als die Skischule. «Dort muss ich immer so langsam fahren. Wie ein Baby.»
Mittlerweile isst Lisa wieder selber. Allerdings funktioniert ihr Sättigungsgefühl nicht richtig. «Wir müssen sehr darauf achten, wie viel sie isst», sagt Sascha. «Manchmal isst sie so viel, dass sie sich übergeben muss.»
Alle vier Monate muss Lisa aktuell ins MRI. So kann überprüft werden, ob der Tumor nicht wieder wächst. Die Fünfjährige geht nicht gerne zu den Kontrollterminen, da diese mit einer Vollnarkose verbunden sind und sie einen nüchternen Magen haben muss. «Ich habe dann immer Hunger am Morgen», klagt sie. «Ich gehe nicht gerne ins Spital», sagt Lisa. «Ich bleibe lieber zuhause oder gehe in die Kita und mache Quatsch.»
Bis jetzt sind die Kontrollen immer gut ausgefallen. Möglicherweise wird Lisa nie wieder eine Chemotherapie machen müssen. Doch es besteht auch das Risiko, dass der Tumor wieder zu wachsen beginnt. Etwa in der Pubertät, wenn die Hormonaktivität zunimmt.
Doch Sascha bleibt zuversichtlich: «Die Chemotherapie hat schon einmal funktioniert, müsste sie irgendwann noch einmal eine machen, sind die Chancen gut, dass sie wieder anschlägt.»
Inzwischen ist Sascha selber Stiftungsrat bei der Stiftung Sonnenschein. «Ich will etwas zurückgeben und anderen Familien mit einem krebskranken Kind helfen», sagt er. «Wir leisten Unterstützung im Haushalt, organisieren Events und greifen finanziell unter die Arme.»
«Ich sehe das Leben jetzt anders. Arbeit und all das ist für mich nur noch sekundär», sagt Sascha. Er schaue nicht zu weit in die Zukunft, sondern nehme Jahr für Jahr. «Ich geniesse die Zeit, die wir zusammen haben.»
Der Optimismus scheint auf die Tochter abgefärbt zu haben. Einmal sagt sie leise, aber bestimmt: «Ich sterbe nicht.»
*Die Namen wurden von der Redaktion geändert, da sich die Familie wünscht, dass Lisa später nicht bei einer Google-Suche gefunden werden kann.
Solche Geschichten gehen mir durchs Mark und ich bin froh, sieht es bei euch nach 'Happy End' aus! Vielen Dank auch an die hervorragende Arbeit des KiSpi. Ihr seid ein Fels in der Brandung und leistet tagtäglich bemerkenswerte Arbeit. Bitte weiter so!
Dem kleinen Mädchen und seiner Familie alles Gute - viel Kraft die kleines Mädchen.
Und jeder und jedem dem Krebs begegnet.