Da war diese eine Platte. Diese eine 10-Inch in der Musiksammlung meiner Nonna: «Sister Rosetta Tharpe and Marie Knight – Gospel Train». Wow. Diese Platte war ... anders.
Im Haus meiner Grossmutter und Mutter, in dem ich aufwuchs, wurde Musik in Qualitätsklassen aufgeteilt. Zuoberst war Klassik. Die galt als ‹gute› Musik. Uuh. Dicht gefolgt von Jazz, Blues und Gospel. Weit abgeschlagen waren die Calypso- und Pop-Singles meiner Mami – die waren bestenfalls lustig, aber in keinster Weise «ernst zu nehmen». Rock'n'Roll oder Ähnliches wurde schon gar nicht geduldet, weil «die brüllen eh nur rum».
Schon als Kind vermutete ich aber, dass es genau dieser Rock'n'Roll war, der mich am meisten ansprach. Aber ich fand auch gefallen an den oben genannten Jazz- und Gospel-Platten. Und vor allem an dieser Sister-Rosetta-Tharpe-Scherbe, denn die ... na ja, die rockte, eben.
Schubladisierungen in der Musik sind immer problematisch, denn öfters als nicht ist das Schaffen der Künstler viel breiter gefächert als jene Etikettierung, welche sie irgendwann einmal aufgedrückt bekommen hatten. Doch just dank der Bezeichnung ‹Gospel›, hatte sich hier etwas mir ins Haus eingeschlichen, dass genau so sehr rockte, wie alles, was Little Richard oder Elvis von sich gaben. Und es hörte sich ohnehin ziemlich ähnlich an, ...
... was musikethnologisch ja absolut korrekt ist. Und heute nun, langsam aber sicher, bekommt Sister Rosetta Tharpe endlich die Anerkennung, die sie verdient: Nicht nur als eine der grössten Gospel-Stars aller Zeiten, sondern als nichts weniger als die Urmutter des Rock'n'Rolls.
Zuerst mal ein Disclaimer: Nein, natürlich gibt es keine ‹eine Person›, die als Vater, Mutter, Pate oder weiswasich des Rock'n'Rolls zu bezeichnen wäre. Auch wurde dieses Musikgenre nicht ‹erfunden›. Eben sowenig wie es keinen ‹einzelnen Moment› gab, in dem der Rock'n'Roll ‹geboren› wurde. Nicht, als Elvis zum ersten Mal das Sun Studio betrat, nicht, als T-Bone Walker zum ersten Mal die Gitarre hinter dem Kopf spielte, und auch nicht, als Robert Johnson den leibhaftigen Teufel an den Crossroads traf. Vielmehr war es die kollektive Dynamik dieser Individuen und vieler weiteren, welche alle diese Ereignisse unabhängig voneinander erlebten, die den Brandherd entfachten, der sich zum Feuersturm des Rock'n'Rolls entwickelte.
Rosetta Tharpe, geboren am 20. März 1915 in Cotton Plant Arkansas, aber, wurde in diesem Kontext lange übersehen. Eine schwarze Frau mit kreischender E-Gitarre, die alttestamentarische Parabeln besang – das passte nicht in die Ikonografie des Rock'n'Rolls und seiner Entstehungsgeschichte.
Laut Kanon war das Pantheon der Rock'n'Roll-Urgesteine der Fünfzigerjahre eine einzige Männerdomäne: die Titanen des Rhythm'n'Blues – Big Joe Turner, Fats Domino, Louis Jordan und Konsorten – und dann die frühen Rockabillies Elvis, Carl Perkins, Jerry Lee und Co. –, die den schwarzen Sound den weissen Teenies zugänglich machten. Pioniere und allesamt wichtige Persönlichkeiten der Musikgeschichte, gewiss. Und allesamt Typen. Sechzig Jahre lang hat uns die gängige Meinung diktiert, dass Frauen in den Anfangsjahren keinen Rock'n'Roll betrieben haben.
Dass dies keineswegs der Wahrheit entspricht, rückt glücklicherweise immer mehr ins Bewusstsein. Und Sister Rosetta Tharpe nimmt damit ihren rechtmässigen Platz auf einem der allerhöchsten Podeste ein.
Tharpes Status als eine der Allergrössten der Gospelmusik war nie bestritten worden. Wegen dieser Etikettierung ging aber vergessen, dass sie viel mehr war, nämlich:
1942 bereits schrieb der Musikkritiker Maurie Orodenker über Tharpes Song «Rock Me»:
Da haben wir's also: Rock'n'Roll, bevor Rock'n'Roll existierte. Little Richard, Elvis, Jerry Lee sind nur drei Beispiele früher Rocker, die namentlich Rosetta als Einfluss nennen.
Womit konstatiert wäre: Rock'n'Roll, diese vermeintliche Männerdomäne, haben wir mitunter einer queeren, schwarzen Gitarristin zu verdanken, die über Religion sang. Die Welt der Musik ist und bleibt divers, unerwartet – und wunderschön.