Es ist eine delikate Angelegenheit, die es so in der Schweiz wohl noch nie gab: In der Türkei sitzt ein ehemals im Aargau wohnhafter Kosovo-Albaner eine lebenslange Haftstrafe ab – gleichzeitig schuldet der Kanton dem Mann 32'200 Franken. Dies gemäss einem Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2014. Hinzu kommt: Eigentlich sollte das Department Volkswirtschaft und Inneres das Geld längst auszahlen, doch es darf nicht. Wegen einer international geltenden Sanktionsliste.
Um den Fall zu verstehen, braucht es zunächst eine Rückblende. Çendrim R. wird 1991 im damaligen Serbien geboren; die Familie flüchtet in die Schweiz, als der Bub 7-jährig ist. In Brugg folgen Primar- und Realschule, eine Lehre als Sanitärinstallateur. Doch der junge Mann tut sich schwer mit Regeln, kann die Ausbildung nicht abschliessen. 2010 wird er vom Jugendgericht verurteilt. Unter anderem hatte er versucht, bewaffnet einen Brugger Juwelier auszurauben.
Im April 2012 hat er seine Strafe abgesessen. Frei kommt er nicht, ein Gutachten stellt erhöhte Rückfallgefahr fest. Die Jugendanwaltschaft beantragt Sicherheitshaft. Es folgt ein juristisches Hin-und-Her zwischen Çendrim R. und seinem Anwalt, Jugendanwaltschaft, Obergericht, Jugendgericht Brugg und Bundesgericht. Zehn Monate lang. Derweil bleibt Çendrim ein weiteres Jahr in Haft. Doch 2014 befindet das Bundesgericht die Sicherheitshaft für unrechtmässig. Der Kanton muss 32'200 Franken Genugtuung zahlen, 100 Franken je Hafttag.
Kurz nachdem Çendrim R. aus dem Gefängnis in Lenzburg entlassen wird, wird er in den Kosovo weggewiesen. Von dort aus reist er weiter in den Dschihad nach Syrien, wo er sich einer al-Kaida-nahen Truppe anschliesst und zum Kämpfer ausbilden lässt.
Nach zehn Monaten fährt Çendrim mit zwei Lagerkollegen im Auto zurück nach Mazedonien. Unterwegs wollen sie in Istanbul Halt machen, um einen Anschlag zu verüben. So weit kommt es aber nicht: An einem Checkpoint werden sie gestoppt. Çendrim R. und seine Kollegen eröffnen das Feuer, töten einen Militäroffizier, einen Polizisten und einen Lastwagenfahrer. In Anatolien wird ihnen der Prozess gemacht. «Ich tat etwas Gottgefälliges», sagt Çendrim vor Gericht. Vor einigen Wochen wurde er zu 174 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt.
Daran, dass der Kanton Aargau dem heute 24-Jährigen 32'200 Franken Genugtuung schuldet, ändert das nichts. Doch seine Al-Kaida-Vergangenheit wird Çendrim jetzt zum Verhängnis. Recherchen der az zeigen: Çendrim R. fällt unter die «Verordnung über Massnahmen gegenüber Personen und Organisationen mit Verbindungen zu Usama bin Laden, der Gruppierung Al-Qaïda oder den Taliban». Die Liste wird vom UNO-Sicherheitsrat laufend aktualisiert und gilt auch in der Schweiz. Für die aufgeführten Personen und Gruppen sind «alle Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen» gesperrt. Im Fall Çendrim R. würde so verhindert, dass das Geld etwa in die Hände von Terroristen geriete, während der Empfänger inhaftiert ist.
In der Schweiz ist das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zuständig für die Umsetzung und Einhaltung der UNO-Sanktionen. Das zuständige Ressort sieht sich nun mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert: Es muss herausfinden, wie es das Bundesgerichtsurteil zu Çendrim R.s Genugtuung umsetzen kann, ohne die internationale Verordnung zu verletzen.
DVI-Sprecherin Sandra Olar bestätigt, dass der Fall nach wie vor «pendent» sei und aktuell vom Seco geprüft werde. Seco-Sprecher Fabian Maienfisch sagt auf Anfrage dazu, man kommentiere grundsätzlich keine Einzelfälle. Ob und wie viel Geld Çendrim R. schliesslich aus dem Aargau erhalten wird, ist deshalb unklar.
Zur Höhe des Betrags kann Olar keine Angaben machen: Wenn die Frage der Auszahlung wieder aktuell werde, müsse «nochmals geprüft werden, wie weit Verrechnungen mit der Genugtuung möglich sind.» (aargauerzeitung.ch)