Michelle Richner versucht es ein zweites Mal: «Und jetzt de linki Arm löpfe», sagt die Kindergärtnerin, und wartet, bis doch noch ein paar Hände in die Höhe schnellen. «Jetzt stehen alle auf!», ruft Richner in die Runde. Ein paar Mädchen und Buben springen von ihren hölzernen Stühlen. Sieben Kinder bleiben sitzen. Sie verstehen nicht, was sie tun sollen.
Es ist August 2016, der erste Schultag im Schützenweg-Kindergarten in Suhr. Kindergärtnerin Michelle Richner steht vor einer grossen Herausforderung: Ihre Kinder heissen Flakrina, Adonay, Siyar oder Ayaan. Von 20 Buben und Mädchen haben 19 ausländische Wurzeln. Sie stammen aus Ländern wie Albanien, Eritrea, der Türkei und Pakistan. Nur drei Kinder sprechen fliessend Mundart. Die Mehrheit der Kinder, die heute erstmals den Kindergarten besucht, versteht kaum Deutsch. Michelle Richner, Fabienne Geiser (Deutsch als Zweitsprache DAZ) und Klassenassistentin Claudia Kiefer verständigen sich deshalb mit Händen und Füssen.
Der altersgemischte Kindergarten am Schützenweg hat damit den höchsten Anteil an fremdsprachigen Kindern in Suhr und ist voll belegt. Der Doppelkindergarten steht im Süden der Gemeinde. Hier leben viele Ausländer in günstigen Wohnungen, vor allem in den Quartieren Frohdörfli-Helgenfeld und Wynematte-Buhalde.
In anderen Suhrer Kindergärten hat es mehr Schweizer Kinder, in einzelnen Abteilungen fast ausschliesslich. Eine Durchmischung von schweizerischen und ausländischen Kindergärtlern, wie sie die Schule im Sinne der Integration anstrebt, gibt es am Schützenweg kaum.
Neun Monate nach dem ersten Schultag besuchen wir Michelle Richners Kindergartenklasse Anfang Mai ein zweites Mal. Es ist Mittwochmorgen, Turnen steht auf dem Stundenplan. In der Halle im Untergeschoss der Schulanlage Dorf überschlägt sich Kindergeschrei. Die Buben und Mädchen spielen Fangis, ein dunkelhäutiger Bub schwingt sich unter einer Reckstange hindurch und entgeht flink einem Fänger.
Dann ruft Michelle Richner ihre Schützlinge zusammen. Der Boden bebt unter den vielen Kinderschuhen. «Alle stehen auf den Kreis», sagt die Kindergärtnerin zu den Kindern. Schnell schliessen sich die Mädchen und Buben Schulter an Schulter in der Mitte der Halle zu einem Kreis zusammen. «Alle sitzen jetzt auf die Knie», sagt Richner. Die Kinder lassen sich auf die Knie fallen. Alle verstehen, was ihre Kindergärtnerin sagt.
«Die Mädchen und Buben haben seit dem vergangenen Sommer enorme Fortschritte gemacht, fast alle verstehen jetzt Deutsch», erzählt Michelle Richner später, während die Kinder in der Halle herumtollen. «Sie haben die Sprache aufgesogen wie ein Schwamm. Zudem haben sie genau beobachtet und nachgeahmt, was wir ihnen vorgezeigt haben.»
Das ist das Ergebnis harter Arbeit. Michelle Richner, Fabienne Geiser und Claudia Kiefer erklärten den Kindern in den ersten Wochen trotz Sprachbarriere die Kindergarten-Regeln. Dazu gehören einfache Dinge wie der Morgengruss. Oder das Znüni. Das klappte teilweise nur mit Zeichen.
Dann kam langsam die Sprache dazu: «Wir reden den ganzen Tag und wiederholen alles immer wieder, bis die Kinder es verstehen und mit einer Handlung verknüpfen», erklärt Michelle Richner ihre Strategie. «Dabei arbeiten DAZ-Lehrperson, Klassenassistenz und ich eng zusammen.»
Aufklärungsarbeit gab es auch bei den Eltern: In vielen Ländern ist der Kindergarten nicht viel mehr als ein Kinderhort. «Wir müssen den Vätern und Müttern unter anderem erklären, dass die Pädagogik bei uns einen grossen Stellenwert hat und der Schulbesuch obligatorisch ist», sagt Gesamtschulleiterin Denise Widmer. Dies werde manchmal durch geringe Deutschkenntnisse erschwert. «Grundsätzlich sind die Eltern von ausländischen Kindern aber kooperativ», so Widmer. «Sie machen mit und wollen sich und ihre Kinder integrieren.»
Die Sprachprobleme und kulturellen Unterschiede verlangsamen den Alltag im Kindergarten Schützenweg. Während die Buben und Mädchen in anderen Suhrer Kindergärten vom ersten Tag an nach Lehrplan arbeiten, lernen die Kinder am Schützenweg in den ersten Monaten zuerst Deutsch. Dadurch entwickeln sich unter anderem Selbst- und Sozialkompetenz später als üblich, Defizite wie Ablösungsprobleme werden oft nicht sofort erkannt.
«Alles läuft verzögert ab», sagt Denise Widmer. Dies zeige sich dann teilweise sehr deutlich beim Übertritt an die Primarschule: «Einige Kindergärtler sind weniger weit als andere und haben beim Start der ersten Klasse nicht die gleichen Voraussetzungen.»
Zurück zur Klasse von Michelle Richner. Die Turnstunde ist fast zu Ende, die 20 Mädchen und Buben sind aufgedreht. Die Kindergärtnerin bindet einem Bub die Schuhe. Zwei Mädchen stehen daneben und kichern. Richner zieht die Schuhbändel fest zu, der Bub rennt wieder los.
Woher nimmt Michelle Richner die Energie, eine Kindergartenklasse unter diesen teilweise sehr schwierigen Umständen zu führen? «Die Kinder sind dankbar, offen und wollen etwas lernen», sagt Richner – und erzählt ein Beispiel: «Drei fremdsprachige Buben in meiner Klasse haben abgemacht, dass sie miteinander nur Deutsch reden wollen, weil sie ja in der Schweiz sind.»
Solche Erlebnisse und die grossen Fortschritte der Kinder motivieren die Kindergärtnerin, auch nach 15 Jahren: So lange ist Michelle Richner Kindergärtnerin – acht Jahre davon am Schützenweg, wo im kommenden August wieder neue fremdsprachige Mädchen und Buben in ihrer Klasse sitzen werden und zuerst Deutsch lernen müssen. (aargauerzeitung.ch)