Zuerst räumte das Kantonsspital Aarau (KSA) im März ein, dass ein Arzt in den vergangenen drei Jahren falsch abgerechnet hatte. Dann schrieb der Regierungsrat am Freitag in seiner Antwort auf einen Vorstoss von SVP-Grossrat Jean-Pierre Gallati, es habe zwei solcher Fälle am KSA gegeben. Nun zeigen Recherchen der Aargauer Zeitung: Das Ausmass der illegalen Honorar-Manipulationen von Chefärzten in Aarau ist weitaus grösser, als es bisher bekannt war.
Noch im März hatte die Geschäftsleitung in einer kurzen Mitteilung festgehalten, dass das Spital die korrekte Leistungserfassung der Honorare in Stichproben wiederholt überprüft habe. In den letzten drei Jahren sei «ein Fall entdeckt und mit einer Rückzahlung sowie einer personalrechtlichen Massnahme geahndet» worden. Die damalige Spitalsprecherin Andrea Rüegg sagte auf Anfrage, die Manipulation sei bei einer spitalinternen Kontrolle entdeckt worden.
Laut den Informationen, die der AZ heute vorliegen, stimmt dies nicht. Demnach hat die Spitalleitung die Wirtschaftsprüfer der Firma AWB Aarau beauftragt, zwei Revisionen zu den Abrechnungen des Arztes zu erstellen. Isabelle Wenzinger, Mediensprecherin des Kantonsspitals Aarau, bestätigt auf Anfrage: «Es ist korrekt, dass zur Unterstützung bei der Analyse zwei sich ergänzende Gutachten in Auftrag gegeben wurden.» Die ersten Hinweise auf Unregelmässigkeiten bei den Abrechnungen des Chefarztes seien von anderen Ärzten gekommen, ergänzt sie.
Auszüge aus den zwei Revisionsberichten liegen der AZ vor. Sie zeigen, dass es sich um den Chefarzt der Gefässmedizin (Angiologie) handelt. Isabelle Wenzinger sagt dazu: «Wir beantworten aus rechtlichen Gründen keine Fragen nach Personen oder Funktionen.»
Den ersten Revisionsbericht lieferte die AWB Anfang Juli 2016. Darin schreiben die Wirtschaftsprüfer: «Dass der Chefarzt Leistungen auf sich erfasst, die er nicht selber erbracht hat, trifft gemäss unseren Feststellungen zu.» Ausgewertet wurden durch die externen Prüfer insgesamt 95 Stichproben aus den Monaten August und November 2015.
Davon hätten rund 30 Prozent «formelle und materielle Abweichungen» gezeigt, steht im Revisionsbericht. Konkret seien Leistungen von Assistenz- und Oberärzten auf den Chefarzt erfasst worden.
Das bedenkliche Fazit der Wirtschaftsprüfer: «Die Häufigkeit der festgestellten Abweichungen deutet auf einen systematischen Vorgang hin.» Es handle sich bei den falschen Abrechnungen nicht um vereinzelte Fälle ohne Muster.
Das heisst im Klartext: Der fehlbare Chefarzt rechnete nicht aus Versehen in ein paar wenigen Fällen falsch ab, sondern manipulierte systematisch rund jede dritte untersuchte Abrechnung.
Dies widerspricht der Aussage des Regierungsrats, der in seiner Antwort auf Gallatis Interpellation festhielt: «Laut Aussagen des Kantonsspitals Aarau sind systematische Manipulationen offensichtlich nicht möglich.»
Warum hat das KSA dem Gesundheitsdepartement diese offensichtlich falsche Auskunft gegeben – obwohl die externen Revisoren festhalten, der Chefarzt habe die Abrechnungen systematisch manipuliert? Spitalsprecherin Wenzinger betont, die Information an den Regierungsrat sei korrekt gewesen. «Das System kann nicht manipuliert werden, hingegen sind Fehlerfassungen von Einzelleistungen – auch mehrfach – möglich.» Dies sei ein Gegenstand der regelmässigen Stichproben.
Den zweiten Bericht lieferte die Prüfungsfirma dem Kantonsspital Aarau dann Mitte Januar 2017 ab. Darin wurde für die Jahre 2014 und 2015 geprüft, ob der Chefarzt Leistungen auf sich abgerechnet hatte, obwohl er gemäss Dienstplan abwesend war.
Die Revision ergab, dass «während seiner Abwesenheit insgesamt 507 Sitzungen auf seinen Namen abgerechnet wurden.» Schon diese Zahl ist hoch, doch der Angiologe ist schon seit 2001 als Chefarzt am KSA tätig. Geht man davon aus, dass er über die ganze Anstellungszeit hinweg im ähnlichen Ausmass falsch abrechnete, würden sich rund 4250 Fälle ergeben.
Dabei könnte es sich um Situationen handeln, in denen der Chefarzt zum Beispiel im Ausland in den Ferien war, aber dennoch ein Honorar für eine medizinische Leistung bezog, die er gar nicht selber erbracht hatte.
Für den fehlbaren Chefarzt hatte sein Verhalten Folgen: Er kassierte eine Verwarnung und musste «einen Betrag im vierstelligen Bereich» zurückzahlen, wie Spitalsprecherin Wenzinger sagt. Warum liess das KSA nicht die Abrechnungen aller 17 Jahre überprüfen, seit der Chefarzt in Aarau tätig ist? «Es wurde die gesamte Zeitperiode untersucht, seit das System für Honorarpools gilt», antwortet die Spitalsprecherin. Aus diesen Pools, in die beträchtliche Erträge aus ärztlichen Leistungen fliessen, beziehen die Chefärzte am Kantonsspital Aarau rund die Hälfte ihres Lohnes.
Der Systemwechsel bei den Honorarpools sei vor drei Jahren erfolgt, sagt Wenzinger. Der AZ liegen indes konkrete Hinweise vor, dass der Chefarzt auch vor 2015 schon zahlreiche Leistungen auf sich verrechnete, obwohl er bei den Eingriffen und Behandlungen nicht anwesend war. Weiter hält die Spitalsprecherin fest, «insbesondere für Dritte» sei kein Schaden entstanden, «weder für Patienten noch für Versicherer». Und der Chefarzt habe dem KSA den entstandenen Fehlbetrag vollumfänglich zurückerstattet.
Einsicht in die zwei Revisionsberichte hatten laut der Spitalsprecherin der Verwaltungsrat und der CEO des Kantonsspitals Aarau. Informiert habe das KSA auch das kantonale Gesundheitsdepartement. Karin Müller, Sprecherin von Gesundheitsdirektorin Franziska Roth, bestätigt dies auf Anfrage der AZ: «Dem Regierungsrat wurden in seiner Funktion als Aufsichtsinstanz über alle Träger von öffentlichen Aufgaben Unterlagen über mögliche Unregelmässigkeiten bei der Abrechnung von Leistungen der Abteilung Angiologie des Kantonsspitals Aarau zugestellt.»
Daraufhin habe die Regierung Ende November 2017 eine schriftliche Anfrage an die Staatsanwaltschaft gerichtet, sagt die Sprecherin des Gesundheitsdepartements. Nach umfassenden Abklärungen habe die Oberstaatsanwaltschaft im Dezember 2017 in einem Schreiben an den Regierungsrat allerdings festgehalten, «dass nach sorgfältiger Prüfung kein strafrechtlich relevantes Verhalten nachgewiesen werden kann und darum kein Straftatbestand vorlag».
Auf die Frage, ob der Kanton als Eigentümer des Spitals das Vorgehen gegen den fehlbaren Chefarzt für angemessen hält, sagt Müller: «Es ist Aufgabe des Verwaltungsrats und der Geschäftsleitung des KSA als eigenständige Aktiengesellschaft, diese Sache zu regeln.» Wie oft der Chefarzt seit 2001 tatsächlich Abrechnungen manipulierte, ist indes ungeklärt. Hätte das Gesundheitsdepartement die Möglichkeit, weitergehende Untersuchungen der Abrechnungen anzuordnen?
Karin Müller sagt: «Aus weiteren Untersuchungen wären mit höchster Wahrscheinlichkeit keine neuen Erkenntnisse entstanden.» Und sie weist darauf hin, dass es sich beim KSA um eine selbstständige Aktiengesellschaft handelt. Deshalb könne der Regierungsrat nur im Rahmen der Aktionärsrechte handeln.
Weiter hält sie zum Vorgehen des Chefarztes fest: «Von einer grundsätzlichen Manipulation kann nicht gesprochen werden.» Die Leistungsmenge sei nicht manipuliert worden, sagt die Sprecherin. Das heisst konkret, dass der Chefarzt keine Behandlungen abrechnete, die nicht stattfanden, sehr wohl aber solche, bei denen er selber nicht anwesend war. (aargauerzeitung.ch)