«Auch ein Vierfachmörder soll eine Perspektive erhalten, irgendwann freizukommen»
Am 21. Dezember 2015 zerstörte Thomas N. eine Familie in Rupperswil AG. Er wählte sie zufällig aus, weil er den jüngsten Sohn sexuell missbrauchen wollte. Er tötete vier Menschen und zündete das Haus an. Die Polizei suchte ihn fünf Monate lang und verhaftete ihn – kurz bevor er in der nächsten Gemeinde zuschlagen wollte.
Das Lenzburger Bezirksgericht verurteilte Thomas N. 2018 zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe, einer ordentlichen Verwahrung sowie zu einer ambulanten Massnahme. Das ist eine Therapie im Gefängnis. Das Obergericht strich diese jedoch, weil sie innert fünf Jahren Aussicht auf Erfolg haben müsste und im Widerspruch zur Verwahrung steht. Das Bundesgericht bestätigte den Entscheid.
Diese Woche publizierte das Aargauer Verwaltungsgericht einen aufsehenerregenden Entscheid: Es weist die Vollzugsbehörden an, eine freiwillige Therapie zu prüfen. Thomas N. hatte diese verlangt, um auf seine Freilassung hinarbeiten zu können. Das Gericht gestand ihm dieses Recht grundsätzlich zu.
Wann könnte Thomas N. freikommen?
Die lebenslängliche Freiheitsstrafe wird ihrem Namen nicht gerecht. Nach 15 Jahren ist eine bedingte Entlassung möglich, falls ein Täter dann nicht mehr als gefährlich eingestuft wird. In die gleichzeitig angeordnete Verwahrung wird Thomas N. nie wechseln, weil für diese dieselbe Bedingung gilt. Es handelt sich quasi um eine zweite Sicherungslinie, die nur von symbolischer Bedeutung ist. Im Durchschnitt endet eine lebenslängliche Freiheitsstrafe nach 18 Jahren mit einer bedingten Entlassung. Im Fall von Thomas N. wird diese 2031 erstmals geprüft.
Zuvor wäre ein langer Abklärungsprozess nötig. Eine Therapie wäre der erste Schritt. Thomas N. argumentiert, dass sich sein Rückfallrisiko damit bereits innerhalb von fünf Jahren reduzieren liesse. Er hofft deshalb, zum frühestmöglichen Zeitpunkt wegen guter Führung freizukommen. Deshalb löst das Urteil Sorgen in der Öffentlichkeit aus.
Thomas Manhart ist der ehemalige Chef des Zürcher Amts für Justizvollzug. Unter seiner Führung kam der Mörder von Rupperswil ins Gefängnis Pöschwies. Er beschwichtigt: «Selbst im günstigsten Fall würde es mindestens nochmals 15 Jahre bis zu ersten Lockerungsschritten dauern.»
Er vergleicht den Fall mit der Parkhausmörderin Caroline H., die ebenfalls zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe und einer Verwahrung verurteilt wurde. Sie sitzt seit 1998 im Gefängnis. Erst nach 26 Jahren hielt das Gericht eine intensive Therapie für angezeigt. Im vergangenen Jahr wandelte es die Verwahrung in eine stationäre Massnahme um. Diese dauert meistens fünf Jahre oder mehr.
Ist es richtig, dass Thomas N. diese Chance erhält?
Der Psychiater Thomas Knecht wundert sich gegenüber «TeleM1» und «Blick» über den Entscheid; eine Therapie sei in diesem Fall hoffnungslos.
Manhart bezeichnet diese Aussage als «populistisch». Denn es gehe jetzt nur darum, zu prüfen, ob der Täter Zugang zu einer Therapie erhalten solle. «Auch ein grässlicher Täter ist ein Mensch», sagt er. Es sei richtig abzuklären, ob ihm therapeutisch geholfen werden kann. Grundsätzlich gelte: «Auch ein Vierfachmörder soll die Perspektive erhalten, irgendwann freizukommen.» Es wäre menschenrechtswidrig, ihn aus Prinzip für immer einzusperren.
Senkt eine Therapie das Rückfallrisiko?
Thomas N. konnte vor Gericht nicht erklären, warum er die vier Menschen getötet hat. Der Richter fragte ihn immer wieder nach seinem Motiv. Der Täter stammelte in Stichworten: «Die Tat vertuschen. Angst, Schande. Das waren die Hintergedanken am Anfang.»
Die Gerichtsgutachter diagnostizierten bei Thomas N. Pädophilie und unterschiedliche Persönlichkeitsstörungen. Sie stellten Therapieerfolge in Aussicht, was aber bis zu fünfzehn Jahre dauern könne.
Kurz vor der zweitinstanzlichen Gerichtsverhandlung schaltete sich der Psychiater Frank Urbaniok in die Debatte ein und kritisierte, die Gutachter könnten die Tat mit ihrer Diagnose nicht erklären: «Es bleibt offen, weshalb er die vier Menschen ermordet hat. Wenn man nicht weiss, warum jemand eine Tat begangen hat, dann weiss man auch nicht, was sich ändern müsste, damit das Risiko für einen Rückfall sinkt.» Sowohl Pädophile als auch Menschen mit Persönlichkeitsstörungen würden normalerweise niemanden umbringen.
Manhart teilt die Kritik: «Eine erfolgreiche Therapie bedingt, dass man den Tatmechanismus versteht.» Möglicherweise könnte diese Frage aber auch in einer Therapie aufgearbeitet werden.
Worin besteht die Gefahr einer Therapie?
Thomas N. könnte dem Psychiater oder der Psychiaterin etwas vorspielen und sie so manipulieren. Ein eindrückliches Beispiel für seine manipulativen Fähigkeiten machte Staatsanwältin Barbara Loppacher vor der zweiten Instanz publik. Nachdem sie ein weiteres Gutachten in Auftrag gegeben hatte, beklagte er sich bei einer Gefängnisangestellten darüber. Diese griff darauf zum Telefon, wählte die Nummer der Staatsanwältin und kritisierte sie für diesen Verfahrensschritt. Denn Thomas N. sei deshalb «völlig durch den Wind». Die Staatsangestellte hatte offenbar Gefühle für den Mörder entwickelt und die professionelle Distanz verloren.
Manhart erfuhr damals über die Gerichtsverhandlung vom Vorfall in der Pöschwies und klärte ihn ab. Da die Frau den Job schon vorher gewechselt hatte, kam er zu keinen neuen Erkenntnissen.
Heute sagt er: «Eine Therapie müsste überwacht werden – eine Supervision wäre zwingend.» Es sei herausfordernd, einen so schweren Täter zu behandeln. Der psychiatrisch-psychologische Dienst des Kantons Zürich sei in der Lage, dies professionell zu leisten.
Sollte das Gesetz verschärft werden?
Manhart forderte schon in seiner Amtszeit, dass Gerichte den frühestmöglichen Zeitpunkt für die bedingte Entlassung bei lebenslänglicher Freiheitsstrafe bereits bei der Verurteilung verlängern könnten – in schweren Fällen etwa auf 30 Jahre. Im Fall Rupperswil hätte dieses Vorgehen den Vorteil, dass die Behörden jetzt eine Therapie prüfen könnten, ohne falsche Erwartungen zu wecken.
Doch die Politik nahm Manharts Vorschlag nicht auf. Kürzlich hat das Parlament lediglich beschlossen, die bedingte Entlassung erstmals nach 17 statt 15 Jahren zu prüfen. Manhart wundert sich: «Man ruft immer nach härteren Strafen, macht aber das Einfachste nicht.»