«Es ist noch einmal gut gegangen. Der Rechtsstaat wird nicht beschädigt, die Gewaltenteilung bleibt intakt, und die Richter müssen sich nicht zu Erfüllungsgehilfen der jeweils vorherrschenden politischen Laune degradieren lassen. Vor allem aber können die in der Schweiz lebenden Ausländer aufatmen. Sie werden nicht ins Ghetto einer Zwei-Klassen-Justiz verbannt. Es bestätigt sich der nun schon seit Jahrzehnten anhaltende Trend, wonach die Stimmbürger immer wieder über die richtige Ausländerpolitik streiten, extreme Scheinlösungen wie die Durchsetzungs-Initiative aber verwerfen.»
«Das Resultat ist eine Schmach für die SVP, die sich in ihrem Kerngebiet Ausländerpolitik geschlagen geben muss. (...) Tatsächlich kann das gestrige Nein nicht losgelöst vom 9. Februar 2014 gesehen werden. Nach dem Ja zur Zuwanderungsinitiative ging ein Ruck durch das Land. Viele Bürger sagten damals aus Unmut über die hohe Zuwanderung Ja – in der Erwartung, dass man sich mit der EU schon irgendwie einigen würde. Zwei Jahre später ist man keinen Meter weiter. Vielmehr prägen Rechtsunsicherheit und drohende Konfrontationen das Verhältnis mit unserem grössten Handelspartner. Die Ernüchterung ob dieser Situation mag viele bewogen haben, diesmal genauer hinzusehen.»
«Es war der verrückteste, leidenschaftlichste, wichtigste Abstimmungskampf seit Jahren. Und das Resultat zur Durchsetzungs-Initiative ist – 58,9 Prozent Nein. Es ist schwierig, dieses Nein zu überschätzen. Bei der Initiative ging es um sehr viel: sowohl politisch wie privat. Politisch um die Frage, ob der Schweizer Staat radikal umgebaut werden sollte. Und privat für 25 Prozent der Bevölkerung, ob sie vor Gericht zu Bürgern zweiter Klasse degradiert werden sollten. (...) Es war ein schrecklicher Tag für die SVP und ein grosser Tag für die Schweiz.»
«Eine klare Mehrheit der Stimmenden widersteht der Verlockung, sich an straffälligen Ausländern und ihren Familien auszutoben. Das Gespür, was unser Rechtsstaat verträgt, ist intakt. Und das Vertrauen des Volkes in Richter und Parlament weit grösser, als die SVP immer behauptet. Das Nein zur Durchsetzungs-Initiative ist eine Schlappe für die Populisten und ein Sieg der Vernunft und Empathie.»
«Gesiegt hat gestern nicht die ‹Zivilgesellschaft›, wie sich einige der Sieger selber feierten, sondern die Zuversicht und das Vertrauen einer Mehrheit der Stimmbürger, dass die vom Parlament beschlossene Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative genügen wird, um Straftäter tatsächlich des Landes zu verweisen. Der Abstimmungssieg ist ein Sieg auf Probe. Ein Gewinn für die liberale Schweiz ist das nur, wenn die Menschen und ihr Eigentum in der Schweiz besser geschützt werden. Das Vertrauen in die Justiz ist gut und richtig. Aber seit gestern steht es auf dem Spiel.»
«Gewiss haben wir gestern eine Sternstunde des engagierten Bürgertums erlebt (und nur bedingt eine der direkten Demokratie). Noch aber lässt sich nicht ausschliessen, dass sich diese Sternstunde lediglich als Sternschnuppe entpuppt. Ein Novum stellt beherzte Opposition gegen die SVP-Opposition in jedem Fall nicht dar. Das wesentlich Neue an der jetzigen Gegnerschaft ist ihre digitale Vernetzung. Auf Social Media wurde geworben und geliket, wurden Artikel geteilt, Aufrufe lanciert. Nicht zuletzt wurde das Geld für die klassischen Inserate und Plakate zu einem Gutteil mit digitalem Crowdfunding gesammelt. Gut möglich, dass diese feinmaschige Technik auch langfristig den Unterschied machen und dafür sorgen wird, dass die SVP bei ausländer- und aussenpolitischen Themen an der Urne künftig wieder regelmässig in die Schranken gewiesen wird.»
«Das Nein zur furchtbaren Durchsetzungs-Initiative ist ein Ja zu einer freundlichen Schweiz. Zu einer Schweiz der Menschen statt Passbesitzer. Zu einer Schweiz der Vernunft und des Herzens. Auf dieses Land kann man jetzt noch ein bisschen stolzer sein als vorher. (...) Das Erfreulichste und Wichtigste am wuchtigen Nein: Die SVP ist mit dem Versuch gescheitert, der Schweiz eine Identität aufzuschwatzen, die sie nicht hat. Hier Schweizer, dort Ausländer. Ausländer überdies, an die unsinnig rigorose Massstäbe angelegt worden wären. Die SVP braucht latente Fremdenfeindlichkeit für ihre Politik, die Schweiz braucht das nicht.»
«Blick» II: «Es ist ein Nein. Und es fällt deutlich aus. Das Volk versenkt die Durchsetzungs-Initiative und erteilt der Zweiklassenjustiz eine Absage. Das ist gut – der Weg dorthin war allerdings lang und schmerzhaft. Seit Jahren treibt die SVP den Polit-Betrieb in der Schweiz vor sich her. Das führte in jüngerer Vergangenheit zur Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative und zum Rechtsrutsch bei den Wahlen. Das Wehklagen der Gegner war jeweils gross. Nur: wer schlecht mobilisiert oder der Urne gleich gänzlich fernbleibt, ist selber schuld! Jetzt ist die Gegenseite endlich aktiv geworden. (...) Vor allem zeigt der heutige Abstimmungstag eines: Die Schweiz jenseits der SVP ist erwacht. Endlich.»
«Ihre unter dem Motto ‹Allein gegen den Rest der Welt› zelebrierte DSI-Kampagne belegt: Die SVP politisiert weiter strikt im Modus der Opposition – unbeirrt von der Tatsache, dass sie einen zweiten Bundesratssitz zurückerhalten hat. Ihre Beteuerung, mit zwei Bundesräten vermehrt Verantwortung zu übernehmen und sich als Regierungspartei wieder ins fein austarierte Gefüge der Konkordanz einzuordnen, ist ein Lippenbekenntnis. Der nächste Tatbeweis folgt schon im Juni: Mit dem Referendum gegen die beschlossene Reform des Asylwesens torpediert die SVP den Kompromiss, den sie zuvor lange mitgetragen hat – Obstruktion als Klientelpolitik.»
«Die Art und Weise, wie die erfolgsverwöhnte SVP doch noch auf die Verliererstrasse geschickt wurde, dürfte eine Zäsur im Schweizer Politbetrieb darstellen. Wohl haben sich von Mitte-rechts bis ganz links alle wichtigen Parteien gegen die Initiative gestellt, auch die meisten Verbände und Organisationen lehnten sie ab. Doch gestoppt wurde die SVP-Dampfwalze aus der Mitte der Gesellschaft heraus. (...) Tatsächlich wurde die Volkspartei von einer eigentlichen Volksbewegung ausgebremst. (...) Mit dem Nein zur Durchsetzungs-Initiative sprach ein überwältigender Teil der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger auch den demokratischen Institutionen dieses Landes ihr Vertrauen aus.»
«Die Militanz der SVP-Forderungen einte und mobilisierte die Gegner. Und zwar keineswegs nur die klassische parteipolitische Konkurrenz. So kam es vorab in den Städten und in jungen akademischen Milieus zu Gegenbewegungen mit einer Kraft, wie sie die Schweiz selten gesehen hat. Als mediales Gesicht dieser Bewegung profilierte sich Flavia Kleiner von der ‹Operation Libero›. Dieses Gesicht stand und steht für Abertausende, die nicht nur Nein sagten. Sondern die diesmal auch zur Urne gingen.»
«Das Nein zur Durchsetzungs-Initiative ist kein Nein zu einer härteren Ausschaffungspraxis. Immerhin treten nun die schärferen Regeln, die das Parlament beschlossen hat, in Kraft, ohne dass jemand das Referendum dagegen ergriffen hätte. Ausländer, die schwere Straftaten begehen, haben ihr Gastrecht verwirkt und sollen die Schweiz verlassen – dieser Entscheid, den Volk und Stände 2010 getroffen haben, gilt nach wie vor. Doch schärfere Regeln bedeuten nicht, dass dabei bewährte Grundsätze ohne Not über Bord geworfen werden müssen. Etwa der Grundsatz, dass Richter bei der Anwendung von Gesetzen dem konkreten Fall Rechnung tragen. Genau das wollte die Durchsetzungs-Initiative nicht.»
«Die Stimmbürger haben sich deutlich zur Gewaltenteilung und zum Rechtsstaat bekannt. Ein nicht zu unterschätzendes Zeichen auch ans Ausland, dass die Schweiz weiterhin als Hüterin der Menschenrechte ernst genommen werden kann. Die erfolgsverwöhnte Volkspartei hingegen muss ausgerechnet bei ihrem Kernthema 'Ausländer' eine schwere Schlappe hinnehmen.»
«Lange schien das Argument der SVP, dass die Mehrzahl der Straftaten von Personen ausländischer Herkunft verübt werde und diese nur mit einem Ja konsequent ausgewiesen würden, denn auch zu ziehen. Doch dieses Mal hat die Partei den Bogen überspannt. Die Mehrheit des Volkes hat offensichtlich gestört, dass die Initiative eine klare Verschärfung und nicht nur die Durchsetzung der Ausschaffungs-Initiative ist. (...) Zwei Monate nach den Übergriffen in Köln und trotz anhaltendem Flüchtlingszustrom ist dieses Votum bemerkenswert.»
«Was die SVP vor der DSI-Abstimmung erlebte, war nichts anderes als ein mehrere Wochen anhaltender Shitstorm der Differenzierung. Die Rechtspartei hatte dem dezentralen Widerstand aus der Mitte der Gesellschaft nichts entgegenzusetzen. Schlimmer noch: Die SVP und ihre Exponenten wurden entzaubert und verloren Ansehen und Sympathien bis tief in die Kreise langjähriger Anhänger.» Zum Kommentar >>
«Das Resultat würde in anderen europäischen Staaten Entsetzen auslösen: 41,8 Prozent der Schweizer sagen Ja zu einer Paralleljustiz und zur Entrechtung der ausländischen Minderheit. Für die Schweiz ist dieses Ergebnis ein Befreiungsschlag. Das Land ist in den letzten Jahren in einem derartigen Tempo nach Rechts gerückt, dass es keinen Halt, keine Grenze mehr zu geben schien. Jetzt ist die Grenze erstmal erreicht. Gezogen haben sie Menschen, die sich aus dem politischen Leben verabschiedet oder gar nie mitgewirkt hatten. Die von der Abstimmungsroutine gelangweilt waren und von den Muskelspielen der SVP befremdet.»
Die Westschweizer Zeitungen begrüssen das Nein zur Durchsetzungs-Initiative ähnlich unisono wie jene in der Deutschschweiz. Die Stimmbürger hätten Besonnenheit der «politischen Pyrotechnik» vorgezogen, resümierte «Le Temps».
Die «Verneinung des Rechtsstaates» und seiner grundlegenden Prinzipien wie Verhältnismässigkeit und Gewaltenteilung hätten die Bevölkerung empört, schreibt «24 Heures». Die SVP sei nicht der einzige Lautsprecher des Volks, schreibt «Le Liberté». Dieses verlange ein Gleichgewicht der Gewalten.
Die «Täuschung» der SVP sei aufgeflogen, der Rechtsstaat unversehrt geblieben, hiess es bei der «Tribune de Genève». Die Zeitung ortet zudem strategische Fehler bei der SVP-Führung, die mit der Flüchtlingskrise, den sexuellen Übergriffen von Köln und den Pariser Attentaten eigentlich günstige Umstände für einen Sieg gehabt hätte.
Die Westschweizer Zeitungen heben ebenfalls die aussergewöhnliche Mobilisierung der Gegner hervor sowie deren «hartnäckige, aber transparente» Kampagne, wie es «24 Heures» und «Le Temps» formulieren. Die Kommentatoren weisen aber auch darauf hin, dass mit weiteren Vorstössen der SVP gegen Ausländer zu rechnen sei. (sda)