Wir wollen alle möglichst lange und gut leben. Deshalb ist uns die Altersvorsorge lieb und vor allem teuer. Wegen der Demografie kostet sie immer mehr, weshalb die erste und die zweite Säule des Rentensystems zunehmend in Schieflage geraten. Der AHV geht mit der Zeit das Geld aus, die berufliche Vorsorge (BVG) leidet unter strukturellen Schwächen.
Das Problem ist in der Bevölkerung angekommen. Im Sorgenbarometer belegt die Altersvorsorge seit Jahren einen der vordersten Plätze. Die Politik aber tut sich ebenfalls seit langer Zeit schwer mit Reformen. Im September 2017 scheiterte die Altersvorsorge 2020 in der Volksabstimmung. Der Versuch einer Gesamtreform erwies sich als zu ambitioniert.
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert hat keine Rentenreform vor dem Stimmvolk Gnade gefunden. Skeptiker bezeichnen das System als unreformierbar. Dies erfuhr auch die Berner GLP-Nationalrätin Melanie Mettler, als sie nach ihrer Wahl vor zwei Jahren das heikle Dossier übernahm: «Alle sagten mir, niemand wolle wirklich eine Reform.»
Angesichts des Handlungsdrucks beschäftigt sich das Parlament dennoch erneut mit der mühsamen Materie. Die AHV 21 befindet sich bereits auf der Zielgeraden, sie soll in der laufenden Wintersession verabschiedet werden. Ihre wichtigsten Elemente sind die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre und der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent.
Nächste Woche packt der Nationalrat ausserdem die BVG-Reform an. Kernstück ist die Senkung des gesetzlichen Mindestumwandlungssatzes zur Berechnung der Jahresrente von 6,8 auf 6,0 Prozent. Damit soll die höhere Lebenserwartung berücksichtigt werden, denn der heutige Satz führt zu einer Umverteilung von Beitragszahlern zu Rentenbezügern.
So weit, so simpel – auf dem Papier. Doch selbst der bürgerlichen Mehrheit im Parlament ist klar, dass sie diese Vorlagen gegen die linke Referendumsmacht (Stichwort Rentenklau) nur mit Kompensationen durchbringen kann. Bei der AHV 21 soll den Frauen das höhere Rentenalter «versüsst» und bei der BVG-Reform sollen tiefere Renten verhindert werden.
An der Umsetzung aber scheiden sich die Geister. Bei der AHV 21 geht es nicht nur um die Höhe der Kompensation, sondern auch um die Frage, wie lange sie den Frauen ausbezahlt wird. Die Bürgerlichen sind laut der NZZ zerstritten: Die FDP will sieben Jahrgänge berücksichtigen, Mitte und SVP sind für eine Übergangsphase von neun Jahren.
Dahinter steckt die Furcht vor einem erneuten Absturz in der Volksabstimmung. Sie wird vermutlich im September 2022 stattfinden, denn das Referendum gegen die AHV 21 wird so oder so kommen. Die Linke lehnt das Frauenrentenalter 65 rundweg ab. Umfragen zeigen, dass es im Prinzip mehrheitsfähig wäre, dennoch will man offenbar nichts riskieren.
Noch schwieriger wird es bei der zweiten Säule. Diese Reform sei «überkomplex», meint Melanie Mettler. Sie versteht sich als Brückenbauerin und hat in der vorberatenden Kommission einen Vorschlag lanciert, bei dem 20 Übergangsjahrgänge und rund 70 Prozent der Neurentner einen Zuschlag erhielten, der mit zunehmender Dauer abnehmen würde.
In der Kommission habe es «grosse Annäherungen gegeben», sagt Mettler: «Doch wenn es um Entscheide geht, hat oft die Parteitaktik Vorrang.» Im konkreten Fall zeigte die FDP anfangs Sympathien für den Vorschlag der grünliberalen Bernerin. Dann aber schwenkte sie um auf ein restriktiveres Modell, hinter dem gemäss der NZZ auch Mitte und SVP stehen.
Den Bürgerlichen geht es offenkundig um Geschlossenheit, denn auch bei der BVG-Reform ist mit einem Referendum von links zu rechnen. Gleichzeitig ist es fraglich, ob die schwierige Materie die parlamentarische Beratung «überleben» wird. Im Ständerat sucht man Gerüchten zufolge nach Wegen, sie nicht vor den Wahlen 2023 behandeln zu müssen.
In der Wirtschaft und in bürgerlichen Kreisen gibt es gemäss der NZZ zudem Kräfte, die ein Scheitern der Reform in Kauf nehmen. Denn viele Pensionskassen haben zu «Notwehr» gegriffen und die Umwandlungssätze dank dem überobligatorischen Kapital, das nicht an die gesetzliche Mindestvorgabe gebunden ist, von sich aus gesenkt.
Das Nachsehen haben die Neurentnerinnen und Neurentner, und auch die strukturellen Probleme der zweiten Säule (systemwidrige Umverteilung, Benachteiligung von Menschen mit tiefen Löhnen) sind damit nicht gelöst. Melanie Mettler kann eine gewisse Frustration nicht verbergen, weshalb sie mit einem Antrag den Reformdruck hoch halten will.
Demnach würde die AHV 21 (ein Erfolg in der Volksabstimmung vorausgesetzt) erst in Kraft treten, wenn auch die Pensionskassen-Reform alle Hürden genommen hätte. «Das würde die Motivation erhöhen», ist Mettler überzeugt. Auf die Erfolgschance ihres Antrags angesprochen, schweigt die Bernerin erst und seufzt dann: «Es wird schwierig.»
Im Klartext heisst das: Er ist so gut wie chancenlos. «Das Wichtigste ist, dass wir endlich wieder eine AHV-Reform durchbringen», sagte die Aargauer Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel der NZZ und brachte damit die Stimmungslage vieler Bürgerlicher auf den Punkt. Dabei löst auch diese Reform das grundsätzliche Finanzierungsproblem der AHV nicht.
Zusätzlicher Druck kommt von «ausserhalb», durch die Renteninitiative der Jungfreisinnigen. Sie will das Rentenalter schrittweise auf 66 Jahre erhöhen und danach pro Monat zusätzlicher Lebenserwartung um 0,8 Monate. Die SVP/FDP-Mehrheit im Bundesrat wollte Sozialminister Alain Berset laut «CH Media» dazu «verknurren», die Initiative zu unterstützen.
Für den Sozialdemokraten wäre das die «Höchststrafe» gewesen. In Einzelgesprächen brachte er seine Kolleginnen und Kollegen laut Medienberichten «auf Linie», so dass der Bundesrat letzte Woche die Initiative zur Ablehnung empfahl. Gleiches galt im Sinne einer «Opfersymmetrie» auch für die Initiative des Gewerkschaftsbunds für eine 13. AHV-Rente.
Die Lage ist verzwickt. Einmal mehr drohen Reformen der Altersvorsorge zwischen links und rechts zerrieben zu werden. Mit dem Risiko, dass immer mehr Menschen auf Ergänzungsleistungen angewiesen sein werden. Gleichzeitig machen sich ausgerechnet die Jungen am meisten Sorgen um die Renten. «Das ist doch absurd!», meint Melanie Mettler.
«Ich stehe wie die Grünliberalen zum 3-Säulen-System, aber wenn wir am Ende die Einzigen sind, die es reformieren wollen, kommen wir nirgends hin», sagt sie und gibt zu: «Ich habe einige Male schlecht geschlafen.» Eigentlich wissen alle, dass etwas geschehen muss. Und doch besteht die Gefahr, dass das Rentensystem auf absehbare Zeit unreformierbar bleibt.
Es gibt in der 2. Säule eine Umverteilung. Aber nicht von den Jungen zu den Alten, sondern von den Versicherten zu den Pensionskassen («saldo» 2/2021)…
„Im Ständerat sucht man Gerüchten zufolge nach Wegen, sie nicht vor den Wahlen 2023 behandeln zu müssen.“
Fett kassieren aber keine Verantwortung übernehmen… 🤷🏻♂️