Vor zu viel Verklärung sollte man sich hüten. Dennoch ist das Image des Ständerats als Chambre de Réflexion nicht unbegründet. Die Vertretung der 26 Kantone in der Bundesversammlung gilt als abwägender Gegenpol zum sprunghaften Nationalrat. Aus dessen häufig unausgegorenen Ideen zimmerte der Ständerat mehrheitsfähige Vorlagen.
Ein Meisterstück war der Deal, mit dem er die 2017 vom Stimmvolk abgeschmetterte Unternehmenssteuerreform III mit einer Zusatzfinanzierung für die AHV koppelte und im zweiten Anlauf mit Zweidrittel-Mehrheit durch die Volksabstimmung brachte. Massgeblich beteiligt an der sogenannten STAF-Vorlage waren Ständeräte von CVP und SP.
Seither hat sich die CVP in Mitte-Partei umbenannt, doch ohne ihre Ständeräte geht in Bundesbern kaum etwas. Nur haben sich die Gewichte verschoben. Heutzutage geben Mitte-Politiker den Ton an, die eher zum rechten Parteiflügel gehören, wie der Oberwalliser Beat Rieder, der Zuger Peter Hegglin oder der St.Galler Benedikt Würth.
In der NZZ wurden sie als «Sonderbund» bezeichnet. Seine Muskeln liess er spielen, als er 2022 eine vorübergehende Erhöhung der Prämienverbilligungen zwecks Stärkung der Kaufkraft versenkte. Keine Freude an «seinen» Ständeräten hatte Mitte-Chef Gerhard Pfister, denn die Idee basierte auf gemeinsamen Vorstössen mit der SP im Nationalrat.
Ständeräte sind in erster Linie Vertreter ihrer Kantone, und erst danach Parteipolitiker. Und der «Sonderbund» ist kein monolithischer Block. In letzter Zeit aber sorgt die kleine Kammer mit ziemlich unreflektierten Ideen für Irritation. Zwei aktuelle Beispiele lassen die Frage aufkommen, ob sich der Ständerat in eine Anti-Chambre de Réflexion verwandelt.
Anfang April sorgte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg für Aufsehen. Er gab einer Klage des Vereins Klimaseniorinnen recht und befand, die Schweiz mache zu wenig für den Klimaschutz. Bürgerliche Kommentatoren und Politiker tobten, die SVP forderte die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
So weit will die Rechtskommission des Ständerats nicht gehen. Sie kritisiert jedoch den «Aktivismus» des EGMR und verweist darauf, dass die Schweiz in der Klimapolitik viel mache, etwa mit dem 2023 angenommenen Klimaschutzgesetz. Mit dem neuen Stromgesetz wird zudem ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien angestrebt.
Nach einem Ja am Sonntag könnte die Schweiz argumentieren, dass sie das Urteil bereits umsetzt, und es dabei bewenden lassen. Der ständerätlichen Rechtskommission jedoch genügt dies nicht. Sie will in einer Erklärung festhalten, dass die Schweiz «keinen Anlass sieht», dem Urteil «weitere Folge zu geben». Faktisch fordert sie, es nicht anzuwenden.
Am Mittwoch wird der Rat darüber befinden. Für Kommissionspräsident und SP-Ständerat Daniel Jositsch geht es um eine Grundsatzfrage. Fragt sich nur, was das «Musterland» Schweiz erreichen will – ausser den Applaus von Europarats-Mitgliedern wie Aserbaidschan oder Ungarn mit einem gestörten Verhältnis zur Rechtsstaatlichkeit.
Zu einer denkwürdigen Debatte kam es am Montag. Erst versenkte der Ständerat den «Kuhhandel», mit dem zehn Milliarden Franken für die Armee und fünf Milliarden für den Wiederaufbau der Ukraine unter Umgehung der Schuldenbremse beschlossen werden sollten. Treibende Kräfte waren die Mitte-Ständerätinnen Marianne Binder und Andrea Gmür.
Im Plenum wurden ihre Argumente nicht zuletzt von Parteifreunden aus dem «Sonderbund» zerzaust. So weit, so erwartbar. Es gibt rationale Gründe, den Sinn des Konstrukts zu hinterfragen. Umso irritierender war die Fortsetzung. In der Debatte zur Armeebotschaft 2024 stockte der Ständerat den Zahlungsrahmen bis 2028 um vier Milliarden Franken auf.
Kompensiert werden soll dieser Mehraufwand nach dem Willen der bürgerlichen Mehrheit zur Hälfte bei der Entwicklungszusammenarbeit. Ein entsprechender Antrag des Glarner FDP-Ständerats Benjamin Mühlemann wurde angenommen. Dabei will schon der Bundesrat bei der Entwicklungshilfe sparen, um den Ukraine-Wiederaufbau zu finanzieren.
Damit könnte die Hilfe für den Globalen Süden von zuletzt rund drei Milliarden Franken um ein Viertel gekürzt werden. Der Dachverband Alliance Sud reagierte in einer Mitteilung vom Dienstag entsetzt und bezeichnete den Ständerat als «Chambre de destruction». Selbst einzelne bürgerliche Ratsmitglieder fanden, der Beschluss zur Armee gehe zu weit.
Der frühere Zuger Finanzdirektor Peter Hegglin erinnerte an die Corona-Kredite und fand, der Rat reagiere auch bei der Aufstockung des Armeebudgets «zu wenig besonnen». Oder zu wenig reflektiert. Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der die Debatte im Ratssaal mitverfolgt hatte, bezeichnete die Beschlüsse gegenüber dem «Tagesanzeiger» als «unredlich».
Definitiv beschlossen ist nichts, das Geschäft kommt nun in den Nationalrat. Pfister sagte, wenn der Ständerat so tue, als könne man ein derart massives Kostenwachstum beim Militär ohne zusätzliche Einnahmen finanzieren, «dann ist das schlicht eine Illusion». Tatsächlich hatten Ständeräte seiner Partei am Montag sogar eingeräumt, es brauche Mehreinnahmen.
An Vorschlägen fehlt es nicht, sei es eine Finanztransaktionssteuer, eine befristete Erhöhung der Unternehmenssteuer oder eine ebenfalls temporäre «Wehrsteuer» – alles Ideen aus dem bürgerlichen Lager. Die Umsetzung wäre aufwendig, doch das rechtfertigt keinen Angriff auf die Entwicklungshilfe und das damit verbundene Risiko eines Imageschadens.
Das Klimaurteil und die Zeitenwende aufgrund des Ukrainekriegs reflektieren auf ihre Art die Herausforderungen für die Schweiz und ihr Selbstverständnis der bewaffneten Neutralität. Umso wichtiger wäre es, dass sich der Ständerat auf die Rolle als Chambre de Réflexion besinnt. Durchdachte Beschlüsse bringen mehr als unausgegorene Schnellschüsse.
Im Kommentar wird zB Ständerat Würth erwähnt.
Angesichts seiner 16 Mandate - 10 davon bezahlte (bis auf eines) Verwaltungsratsmandate - dürfte fürs Nachdenken nicht mehr viel Zeit übrig bleiben.