Schweiz
Analyse

Klimaurteil und Armeebudget: Der Ständerat sorgt für Irritation

Marianne Binder-Keller, Mitte-AG, 2. von rechts, hoert einem Votum zur Finanzierung der Armee zu, an der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Montag, 3. Juni 2024 im Staenderat in Bern. (KEYST ...
Mitte-Ständerätin Marianne Binder wehrte sich vergeblich für den Armee/Ukraine-Deal.Bild: keystone
Analyse

Der Ständerat wird zur Anti-Chambre de Réflexion

Im Parlament gilt der Ständerat als Stimme des Ausgleichs und der Vernunft. Zuletzt aber sorgte die kleine Kammer mit einigen unausgegorenen Schnellschüssen für Irritation.
04.06.2024, 15:3004.06.2024, 16:03
Mehr «Schweiz»

Vor zu viel Verklärung sollte man sich hüten. Dennoch ist das Image des Ständerats als Chambre de Réflexion nicht unbegründet. Die Vertretung der 26 Kantone in der Bundesversammlung gilt als abwägender Gegenpol zum sprunghaften Nationalrat. Aus dessen häufig unausgegorenen Ideen zimmerte der Ständerat mehrheitsfähige Vorlagen.

Ein Meisterstück war der Deal, mit dem er die 2017 vom Stimmvolk abgeschmetterte Unternehmenssteuerreform III mit einer Zusatzfinanzierung für die AHV koppelte und im zweiten Anlauf mit Zweidrittel-Mehrheit durch die Volksabstimmung brachte. Massgeblich beteiligt an der sogenannten STAF-Vorlage waren Ständeräte von CVP und SP.

Die Staenderaete Beat Rieder, Mitte-VS, rechts, und Benedikt Wuerth, Mitte-SG, studieren ihre Akten an der Fruehjahrssession der Eidgenoessischen Raete, am Dienstag, 12. Maerz 2024, in Bern. (KEYSTONE ...
Die Mitte-Ständeräte Benedikt Würth (l.) und Beat Rieder gelten als sehr einflussreich.Bild: keystone

Seither hat sich die CVP in Mitte-Partei umbenannt, doch ohne ihre Ständeräte geht in Bundesbern kaum etwas. Nur haben sich die Gewichte verschoben. Heutzutage geben Mitte-Politiker den Ton an, die eher zum rechten Parteiflügel gehören, wie der Oberwalliser Beat Rieder, der Zuger Peter Hegglin oder der St.Galler Benedikt Würth.

In der NZZ wurden sie als «Sonderbund» bezeichnet. Seine Muskeln liess er spielen, als er 2022 eine vorübergehende Erhöhung der Prämienverbilligungen zwecks Stärkung der Kaufkraft versenkte. Keine Freude an «seinen» Ständeräten hatte Mitte-Chef Gerhard Pfister, denn die Idee basierte auf gemeinsamen Vorstössen mit der SP im Nationalrat.

Ständeräte sind in erster Linie Vertreter ihrer Kantone, und erst danach Parteipolitiker. Und der «Sonderbund» ist kein monolithischer Block. In letzter Zeit aber sorgt die kleine Kammer mit ziemlich unreflektierten Ideen für Irritation. Zwei aktuelle Beispiele lassen die Frage aufkommen, ob sich der Ständerat in eine Anti-Chambre de Réflexion verwandelt.

Das EGMR-Urteil

Staenderat Daniel Jositsch, Praesident der Kommission fuer Rechtsfragen des Staenderats, RK-N kommentiert das Urteil des Europaeischen Gerichtshofs fuer Menschenrechte EGMR vom 9. April 2024 in Sachen ...
SP-Ständerat Daniel Jositsch erläutert, warum die Schweiz sich gegen das Klimaurteil wehren soll.Bild: keystone

Anfang April sorgte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg für Aufsehen. Er gab einer Klage des Vereins Klimaseniorinnen recht und befand, die Schweiz mache zu wenig für den Klimaschutz. Bürgerliche Kommentatoren und Politiker tobten, die SVP forderte die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

So weit will die Rechtskommission des Ständerats nicht gehen. Sie kritisiert jedoch den «Aktivismus» des EGMR und verweist darauf, dass die Schweiz in der Klimapolitik viel mache, etwa mit dem 2023 angenommenen Klimaschutzgesetz. Mit dem neuen Stromgesetz wird zudem ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien angestrebt.

Nach einem Ja am Sonntag könnte die Schweiz argumentieren, dass sie das Urteil bereits umsetzt, und es dabei bewenden lassen. Der ständerätlichen Rechtskommission jedoch genügt dies nicht. Sie will in einer Erklärung festhalten, dass die Schweiz «keinen Anlass sieht», dem Urteil «weitere Folge zu geben». Faktisch fordert sie, es nicht anzuwenden.

Am Mittwoch wird der Rat darüber befinden. Für Kommissionspräsident und SP-Ständerat Daniel Jositsch geht es um eine Grundsatzfrage. Fragt sich nur, was das «Musterland» Schweiz erreichen will – ausser den Applaus von Europarats-Mitgliedern wie Aserbaidschan oder Ungarn mit einem gestörten Verhältnis zur Rechtsstaatlichkeit.

Das Armeebudget

Zu einer denkwürdigen Debatte kam es am Montag. Erst versenkte der Ständerat den «Kuhhandel», mit dem zehn Milliarden Franken für die Armee und fünf Milliarden für den Wiederaufbau der Ukraine unter Umgehung der Schuldenbremse beschlossen werden sollten. Treibende Kräfte waren die Mitte-Ständerätinnen Marianne Binder und Andrea Gmür.

Im Plenum wurden ihre Argumente nicht zuletzt von Parteifreunden aus dem «Sonderbund» zerzaust. So weit, so erwartbar. Es gibt rationale Gründe, den Sinn des Konstrukts zu hinterfragen. Umso irritierender war die Fortsetzung. In der Debatte zur Armeebotschaft 2024 stockte der Ständerat den Zahlungsrahmen bis 2028 um vier Milliarden Franken auf.

Kompensiert werden soll dieser Mehraufwand nach dem Willen der bürgerlichen Mehrheit zur Hälfte bei der Entwicklungszusammenarbeit. Ein entsprechender Antrag des Glarner FDP-Ständerats Benjamin Mühlemann wurde angenommen. Dabei will schon der Bundesrat bei der Entwicklungshilfe sparen, um den Ukraine-Wiederaufbau zu finanzieren.

Damit könnte die Hilfe für den Globalen Süden von zuletzt rund drei Milliarden Franken um ein Viertel gekürzt werden. Der Dachverband Alliance Sud reagierte in einer Mitteilung vom Dienstag entsetzt und bezeichnete den Ständerat als «Chambre de destruction». Selbst einzelne bürgerliche Ratsmitglieder fanden, der Beschluss zur Armee gehe zu weit.

«Zu wenig besonnen»

Der frühere Zuger Finanzdirektor Peter Hegglin erinnerte an die Corona-Kredite und fand, der Rat reagiere auch bei der Aufstockung des Armeebudgets «zu wenig besonnen». Oder zu wenig reflektiert. Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der die Debatte im Ratssaal mitverfolgt hatte, bezeichnete die Beschlüsse gegenüber dem «Tagesanzeiger» als «unredlich».

Mitte Praesident Gerhard Pfister, Mitte-ZG, 2. von links, verfolgt die Debatte um die Finanzierung der Armee, an der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Montag, 3. Juni 2024 im Staenderat in  ...
Mit kritischem Blick verfolgt Mitte-Präsident Gerhard Pfister die Armeedebatte im Ständerat.Bild: keystone

Definitiv beschlossen ist nichts, das Geschäft kommt nun in den Nationalrat. Pfister sagte, wenn der Ständerat so tue, als könne man ein derart massives Kostenwachstum beim Militär ohne zusätzliche Einnahmen finanzieren, «dann ist das schlicht eine Illusion». Tatsächlich hatten Ständeräte seiner Partei am Montag sogar eingeräumt, es brauche Mehreinnahmen.

An Vorschlägen fehlt es nicht, sei es eine Finanztransaktionssteuer, eine befristete Erhöhung der Unternehmenssteuer oder eine ebenfalls temporäre «Wehrsteuer» – alles Ideen aus dem bürgerlichen Lager. Die Umsetzung wäre aufwendig, doch das rechtfertigt keinen Angriff auf die Entwicklungshilfe und das damit verbundene Risiko eines Imageschadens.

Das Klimaurteil und die Zeitenwende aufgrund des Ukrainekriegs reflektieren auf ihre Art die Herausforderungen für die Schweiz und ihr Selbstverständnis der bewaffneten Neutralität. Umso wichtiger wäre es, dass sich der Ständerat auf die Rolle als Chambre de Réflexion besinnt. Durchdachte Beschlüsse bringen mehr als unausgegorene Schnellschüsse.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Historischer Sieg für Klimaseniorinnen in Strassburg
1 / 24
Historischer Sieg für Klimaseniorinnen in Strassburg
Die Freude bei den Klimaseniorinnen ist riesig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ihre Klage gutgeheissen.
quelle: keystone / jean-christophe bott
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Arena 230224 Erklärvideo Beschaffungsliste Armee
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
138 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
einmalquer
04.06.2024 15:44registriert Oktober 2017
Chambre de Réflexion ist sicher übertrieben.

Im Kommentar wird zB Ständerat Würth erwähnt.

Angesichts seiner 16 Mandate - 10 davon bezahlte (bis auf eines) Verwaltungsratsmandate - dürfte fürs Nachdenken nicht mehr viel Zeit übrig bleiben.
18418
Melden
Zum Kommentar
avatar
B-M
04.06.2024 16:44registriert Februar 2021
Der Ständerat ist nicht weiser, er ist einfach konservativer, weil die kleinen, ländlichen Kantone da übervertreten sind.
10136
Melden
Zum Kommentar
avatar
scrum-half
04.06.2024 15:48registriert Oktober 2023
Vor der Erhöhung der Militärausgaben ist die Strategie der Armee der Realität anzupassen. Die Armee muss gegen eine Bedrohung aus dem Osten erfolgreich eingesetzt werden können, was insbesondere bedingt, dass sie koordiniert im Rahmen der Nato-Strategie und -taktik operiert. Dafür braucht sie die nötige Bewaffnung. Dafür macht mehr Geld Sinn. Denn dann nützt es was und wird es nicht nutzlos im Sandkasten, für Spielzeug, Ineffizienz oder Réduit-Träume verplempert.
8929
Melden
Zum Kommentar
138
    Lotto-Jackpot in der Romandie geknackt – steckt eine Zocker-Bande dahinter?

    Am Mittwochabend wurde der Jackpot im Westschweizer Lotto-Spiel «Le Joker» geknackt: Rund drei Millionen Franken beträgt der Gewinn für ein einzelnes Gewinnticket.

    Zur Story