Die Pandemie ist nicht vorbei. Keineswegs. Aber zwei Jahre nachdem Sars-Cov-2 seinen fatalen Siegeszug um die Welt angetreten hatte, ist «ein Weg aus der Krise sichtbar», wie Gesundheitsminister Alain Berset vor den Medien sagte. Diesen müsse man «vorsichtig, bescheiden, bis zum Ende, aber auch mit Freude und Erleichterung» begehen.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Konkret hebt der Bundesrat zwei Massnahmen – Homeoffice-Pflicht und Quarantäne nach dem Kontakt mit einer positiv getesteten Person – sofort auf. In zwei Wochen sollen weitere Schritte folgen, darunter eine Aufhebung der Zertifikatspflicht mit wenigen Ausnahmen. Die Kantone können nun dazu Stellung nehmen, auch zu einem Ende der Maskenpflicht.
Ein Grund ist die Entwicklung in Europa. Die Schweiz wird von immer mehr Ländern «überholt». Dänemark hat am Dienstag alle Massnahmen beendet, in England geschah dies schon letzte Woche. Norwegen, dass strenger war als Nachbar Schweden, hat den Ausstieg eingeleitet. Spanien will Covid als «normale» Infektionskrankheit einstufen.
Der Grund ist in allen Fällen identisch: Mit der Omikron-Variante haben die Fallzahlen sämtliche Rekorde pulverisiert, aber die Katastrophe in den Spitälern ist ausgeblieben. In der Wirtschaft und bei den öffentlichen Diensten kam es zu punktuellen Ausfällen (auch bei watson), aber der zeitweise befürchtete Kollaps fand nicht statt.
«Die Entwicklung in den letzten Wochen gibt uns Hoffnung», sagte Bundespräsident Ignazio Cassis. Dabei sah es um den Jahreswechsel tatsächlich nach einer Eskalation aus. Die Spitäler warnten vor Triagen auf den Intensivstationen, und Taskforce-Chefin Tanja Stadler erklärte, die Omikron-Welle könnte bis zu 2,5 Millionen Infektionen pro Woche verursachen.
Dazu kam es bei Weitem nicht, und das fällt nun auf die Taskforce zurück. Es handelte sich wohlgemerkt nicht um eine Prognose, wie etwa «20 Minuten» schrieb. Die Taskforce entwirft Szenarien mit einer entsprechenden Bandbreite. Dennoch hat sich Stadler mit dem Extremwert keinen Gefallen getan. Den Warnern fällt es noch schwerer, gehört zu werden.
Selbst GLP-Nationalrat Martin Bäumle hat sich gewundert, wie die Taskforce auf diese «Super-Infektionswoche» gekommen ist: «In meinem Modell habe ich das so nicht vorausgesehen.» Und Bäumle ist wirklich kein Verharmloser. Vollkommen daneben aber war das Szenario nicht, denn die Dunkelziffer bei den Fallzahlen dürfte gross sein.
Ein watson-Kollege erzählte mir diese Woche, in seinem Umfeld gebe es viele, die eine Infektion zufällig bemerkt hätten, weil sie sich vor einem Besuch vorbildlich getestet hatten. Gespürt hatten sie nichts. Das zeigt: Wer geimpft und geboostert ist, muss schon viel Pech haben, um bei einer Ansteckung mit Omikron überhaupt Symptome zu entwickeln.
Man muss es wieder und wieder betonen: Die Impfung wirkt. Das zeigt auch der Ländervergleich: Je tiefer die Impfquote, umso grösser waren in diesem Winter die Probleme auf den Intensivstationen, und das schon mit Delta. Bei «Europameister» Portugal blieb es relativ ruhig, während Österreich vor Weihnachten in den Lockdown ging.
Auch in der Schweiz mit ihren vielen Impfverweigerern war die Lage zeitweise kritisch. Dennoch könne man «dank der Impfung» die Lockerung wagen, sagte Bundespräsident Cassis. Ein gewisses Risiko bleibt. Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass der Bundesrat eine «Durchseuchung» der Bevölkerung zumindest in Kauf nimmt.
Richtig ist der Öffnungsweg trotzdem. Auch das Zertifikat macht im Inland keinen Sinn mehr. Wenn sich selbst Geimpfte und Genesene mit Omikron infizieren, vermittelt es nur noch eine Scheinsicherheit. Die Maskenpflicht aber sollte vorerst bleiben, als Geste der Rücksichtnahme auf jene, die sich wegen dem Virus sorgen oder fürchten.
Auch Wachsamkeit ist weiterhin angesagt. Es besteht keine Garantie, dass nicht wieder eine gefährlichere Virus-Variante auftaucht. In zwei Jahren Pandemie gab es immer wieder negative Überraschungen. Ein besonderes Augenmerk gehört auch dem Schutz von vulnerablen Personen, darunter jenen Kindern, die sich nicht impfen lassen können.
Offene Fragen gibt es auch in Sachen Long Covid. Die Gesellschaft aber wird mit diesem Phänomen umgehen wie mit anderen, auch selbstverschuldeten Krankheiten etwa durch Missbrauch von Alkohol und Tabak: Solange sich die Belastung für Spitäler und Wirtschaft in Grenzen hält, wird sie eine gewisse Zahl von Erkrankten und Toten hinnehmen.
Die Alarmisten, die sich in den sozialen Medien über Long Covid und die Durchseuchung ereifern, werden das zynisch nennen. Dabei ist es einfach nur menschlich. Die Pandemie ist nicht zu Ende. Aber noch nie waren die Umstände so günstig, um zumindest einen grossen Teil der früheren Normalität wiederherzustellen. Diese Chance kann und darf man nutzen.
„Es ist Zeit für die ausserordentliche Lage“ - 30.12.2021, Blunschi
„So lässt sich der Weihnachts-Lockdown nicht verhindern“ - 03.12.2021, Blunschi
„Immer mehr Kantone sind am Anschlag – der Bundesrat hat keine Eile“ - 13.12.2021, Blunschi
Das ist eine Frechheit.