Schweiz
Analyse

Corona: Warum die Lockerung der Massnahmen richtig ist

Bundespraesident Ignazio Cassis, rechts, und Bundesrat Alain Berset, links, sprechen nach einer Medienkonferenz ueber die neusten Entscheide des Bundesrates zur Coronavirus-Pandemie, am Mittwoch, 2. F ...
Alain Berset und Ignazio Cassis konnten für einmal gute Nachrichten verkünden.Bild: keystone
Analyse

Die Krise ist nicht vorbei: Der Weg des Bundesrats ist dennoch richtig

Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie will der Bundesrat die meisten Corona-Massnahmen aufheben. Das ist richtig, weil es vor Omikron kein Entkommen gibt – und die Impfung wirkt.
02.02.2022, 19:55
Mehr «Schweiz»

Die Pandemie ist nicht vorbei. Keineswegs. Aber zwei Jahre nachdem Sars-Cov-2 seinen fatalen Siegeszug um die Welt angetreten hatte, ist «ein Weg aus der Krise sichtbar», wie Gesundheitsminister Alain Berset vor den Medien sagte. Diesen müsse man «vorsichtig, bescheiden, bis zum Ende, aber auch mit Freude und Erleichterung» begehen.

>> Coronavirus: Alle News im Liveticker

Konkret hebt der Bundesrat zwei Massnahmen – Homeoffice-Pflicht und Quarantäne nach dem Kontakt mit einer positiv getesteten Person – sofort auf. In zwei Wochen sollen weitere Schritte folgen, darunter eine Aufhebung der Zertifikatspflicht mit wenigen Ausnahmen. Die Kantone können nun dazu Stellung nehmen, auch zu einem Ende der Maskenpflicht.

Video: watson

Ein Grund ist die Entwicklung in Europa. Die Schweiz wird von immer mehr Ländern «überholt». Dänemark hat am Dienstag alle Massnahmen beendet, in England geschah dies schon letzte Woche. Norwegen, dass strenger war als Nachbar Schweden, hat den Ausstieg eingeleitet. Spanien will Covid als «normale» Infektionskrankheit einstufen.

Katastrophe ist ausgeblieben

Der Grund ist in allen Fällen identisch: Mit der Omikron-Variante haben die Fallzahlen sämtliche Rekorde pulverisiert, aber die Katastrophe in den Spitälern ist ausgeblieben. In der Wirtschaft und bei den öffentlichen Diensten kam es zu punktuellen Ausfällen (auch bei watson), aber der zeitweise befürchtete Kollaps fand nicht statt.

«Die Entwicklung in den letzten Wochen gibt uns Hoffnung», sagte Bundespräsident Ignazio Cassis. Dabei sah es um den Jahreswechsel tatsächlich nach einer Eskalation aus. Die Spitäler warnten vor Triagen auf den Intensivstationen, und Taskforce-Chefin Tanja Stadler erklärte, die Omikron-Welle könnte bis zu 2,5 Millionen Infektionen pro Woche verursachen.

Dazu kam es bei Weitem nicht, und das fällt nun auf die Taskforce zurück. Es handelte sich wohlgemerkt nicht um eine Prognose, wie etwa «20 Minuten» schrieb. Die Taskforce entwirft Szenarien mit einer entsprechenden Bandbreite. Dennoch hat sich Stadler mit dem Extremwert keinen Gefallen getan. Den Warnern fällt es noch schwerer, gehört zu werden.

Tanja Stadler, Praesidentin, National COVID-19 Science Task Force, spricht waehrend einer Medienkonferenz zur aktuellen Situation des Coronavirus, am Dienstag, 11. Januar 2022 in Bern. (KEYSTONE/Peter ...
Taskforce-Chefin Tanja Stadler hat sich mit ihrer Warnung keinen Gefallen getan.Bild: keystone

Selbst GLP-Nationalrat Martin Bäumle hat sich gewundert, wie die Taskforce auf diese «Super-Infektionswoche» gekommen ist: «In meinem Modell habe ich das so nicht vorausgesehen.» Und Bäumle ist wirklich kein Verharmloser. Vollkommen daneben aber war das Szenario nicht, denn die Dunkelziffer bei den Fallzahlen dürfte gross sein.

Impfung entlastet die Spitäler

Ein watson-Kollege erzählte mir diese Woche, in seinem Umfeld gebe es viele, die eine Infektion zufällig bemerkt hätten, weil sie sich vor einem Besuch vorbildlich getestet hatten. Gespürt hatten sie nichts. Das zeigt: Wer geimpft und geboostert ist, muss schon viel Pech haben, um bei einer Ansteckung mit Omikron überhaupt Symptome zu entwickeln.

Man muss es wieder und wieder betonen: Die Impfung wirkt. Das zeigt auch der Ländervergleich: Je tiefer die Impfquote, umso grösser waren in diesem Winter die Probleme auf den Intensivstationen, und das schon mit Delta. Bei «Europameister» Portugal blieb es relativ ruhig, während Österreich vor Weihnachten in den Lockdown ging.

Durchseuchung in Kauf genommen

Auch in der Schweiz mit ihren vielen Impfverweigerern war die Lage zeitweise kritisch. Dennoch könne man «dank der Impfung» die Lockerung wagen, sagte Bundespräsident Cassis. Ein gewisses Risiko bleibt. Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass der Bundesrat eine «Durchseuchung» der Bevölkerung zumindest in Kauf nimmt.

Une personne tient dans sa main un smartphone avec l'application Certificat Covid suisse et son code QR indiquant 3G, 2G et 2G+ ce mercredi 12 janvier 2022 a Lausanne. (KEYSTONE/Laurent Gillieron ...
Das Zertifikat vermittelt nur noch eine Scheinsicherheit.Bild: keystone

Richtig ist der Öffnungsweg trotzdem. Auch das Zertifikat macht im Inland keinen Sinn mehr. Wenn sich selbst Geimpfte und Genesene mit Omikron infizieren, vermittelt es nur noch eine Scheinsicherheit. Die Maskenpflicht aber sollte vorerst bleiben, als Geste der Rücksichtnahme auf jene, die sich wegen dem Virus sorgen oder fürchten.

Nicht zynisch, sondern menschlich

Auch Wachsamkeit ist weiterhin angesagt. Es besteht keine Garantie, dass nicht wieder eine gefährlichere Virus-Variante auftaucht. In zwei Jahren Pandemie gab es immer wieder negative Überraschungen. Ein besonderes Augenmerk gehört auch dem Schutz von vulnerablen Personen, darunter jenen Kindern, die sich nicht impfen lassen können.

Offene Fragen gibt es auch in Sachen Long Covid. Die Gesellschaft aber wird mit diesem Phänomen umgehen wie mit anderen, auch selbstverschuldeten Krankheiten etwa durch Missbrauch von Alkohol und Tabak: Solange sich die Belastung für Spitäler und Wirtschaft in Grenzen hält, wird sie eine gewisse Zahl von Erkrankten und Toten hinnehmen.

Die Alarmisten, die sich in den sozialen Medien über Long Covid und die Durchseuchung ereifern, werden das zynisch nennen. Dabei ist es einfach nur menschlich. Die Pandemie ist nicht zu Ende. Aber noch nie waren die Umstände so günstig, um zumindest einen grossen Teil der früheren Normalität wiederherzustellen. Diese Chance kann und darf man nutzen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das bunte Treiben der Coronasünder
1 / 11
Das bunte Treiben der Coronasünder
Credit-Suisse-Präsident António Horta-Osório hat zweimal gegen die Corona-Quarantäneregeln verstossen – einmal gegen schweizerische, ein zweites Mal gegen britische, weil er den Tennisfinal in Wimbledon live miterleben wollte. Die Folgen: für die Credit Suisse zahlreiche peinliche Schlagzeilen in der globalen Finanzpresse, für Horta-Osório selbst blieb nur noch der Rücktritt.
quelle: keystone / andy rain
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Suizid-Gedanken haben sich seit Corona verdoppelt» – 147-Beraterin erzählt
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
103 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
chrissy_dieb
02.02.2022 20:54registriert Januar 2020
Aah, wie schnell diese Analysen doch altern. 😅

„Es ist Zeit für die ausserordentliche Lage“ - 30.12.2021, Blunschi

„So lässt sich der Weihnachts-Lockdown nicht verhindern“ - 03.12.2021, Blunschi

„Immer mehr Kantone sind am Anschlag – der Bundesrat hat keine Eile“ - 13.12.2021, Blunschi
13720
Melden
Zum Kommentar
avatar
Yolo
02.02.2022 20:26registriert Mai 2015
Inzwischen ist mit alles Wurst. Zwei Jahre Irrenhaus stumpften einem ab.
13724
Melden
Zum Kommentar
avatar
B-M
02.02.2022 21:56registriert Februar 2021
Bin diesmal eigentlich einverstanden mit Herrn Blunschis Kommentar, aber wie zur Hölle kommt der drauf, Long Covid als selbstverschuldet zu bezeichnen?
Das ist eine Frechheit.
10423
Melden
Zum Kommentar
103
Amnesty wirft Israel «Genozid» vor: Schweiz soll Massnahmen ergreifen

Die Nichtregierungsorganisation Amnesty International fordert von der Schweiz öffentlichen Druck auf Israel zum Stopp des «Genozids» an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen. Die Schweiz solle unter anderem die israelische Botschafterin einbestellen und öffentlich ein Ende der Gewalt fordern.

Zur Story