Showdown in der FDP: Eine Partei kämpft mit dem Zeitgeist
Frage an einen Wirtschaftsvertreter: Wie beurteilen Sie den Formstand der FDP Schweiz? «Programmatisch ist sie immer noch eine Wirtschaftspartei», betont er im Off-Gespräch (darum keine Namen), um auf Nachfrage einzuräumen: «Die FDP ist nicht im Zeitgeist.» Dieser tickt je nach Thema mal links, mal rechtsnational. Aber kaum noch (wirtschafts-)liberal.
Es sind schwierige Zeiten für die Freisinnigen, die Gründerpartei des Bundesstaats, die in der heutigen Form seit 1894 existieren und 2009 mit der Liberalen Partei der Schweiz zur Partei «FDP.Die Liberalen» fusionierten. Der Zusammenschluss konnte den seit bald 50 Jahren anhaltenden Abwärtstrend bestenfalls bremsen, aber nicht stoppen.
Nun steht der FDP ein «Schicksalstag» bevor: Am Samstag bestimmen die Delegierten im Hospitality-Bereich des Berner Wankdorfstadions die Nachfolge von Parteipräsident Thierry Burkart. Sie ist Formsache: Die St.Galler Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher und der Glarner Ständerat Benjamin Mühlemann werden als Co-Präsidium amtieren.
Europa als Zankapfel
Weitaus konfliktträchtiger ist die zweite Weichenstellung: Die FDP-Delegierten stimmen darüber ab, ob sie das neue Vertragspaket mit der EU «im Grundsatz» unterstützen wollen. Dieses wurde unter Federführung «ihres» Aussenministers Ignazio Cassis ausgehandelt. Das letzte Wort ist damit nicht gesprochen, dennoch hat das Thema Sprengpotenzial.
Die Europafrage ist für die Freisinnigen seit der EWR-Abstimmung 1992 ein Zankapfel. Damals beschloss die Partei ein Ja, doch gewichtige Stimmen kämpften für das Nein. Seither hält dieser Konflikt die FDP auf Trab, trotz grundsätzlichem Bekenntnis zum bilateralen Weg. Er trug dazu bei, dass sie viele Wähleranteile an die SVP verlor.
Druck von links und aus der Mitte
Jetzt wird sie zusätzlich von links bedrängt, von der klar proeuropäischen GLP. Und die Mitte-Partei schielt ziemlich ungeniert auf den zweiten Bundesratssitz der FDP. Es ist ein ungemütlicher Zustand für eine Partei, die im Selbstverständnis mancher Mitglieder nach wie vor eine Taktgeberin des Landes sein sollte – was der Zeitgeist nicht mehr hergibt.
Einer, der das Problem erkannte, war der frühere Parteipräsident Philipp Müller. Der kantige Aargauer positionierte die FDP als vernünftige Alternative zur SVP im rechtsbürgerlichen Spektrum und verschaffte ihr ein Zwischenhoch. Es dauerte bis 2018, als Klimaschutz («Fuck de Planet») und EU-Rahmenabkommen die Partei aus dem Tritt brachten.
FDP geht auf den Wecker
Die damalige Präsidentin Petra Gössi entschied sich bei beiden Themen für eine Vorwärtsstrategie – und scheiterte. Ihre Nachfolge trat Thierry Burkart an, ein «Bremser» in der Umwelt- und der Europapolitik. Mit dem smarten Aargauer gingen weiter Wähleranteile verloren, obwohl die Partei unter ihm und dem neuen Generalsekretär Jonas Projer prägnanter kommuniziert.
Ihre knalligen Medienmitteilungen können nicht kaschieren, wie sehr die FDP inhaltlich mit dem Zeitgeist hadert. Wenn sie Härte in der Asylpolitik markiert, hilft sie nur der SVP. Und der Einsatz der FDP für «jene, die den Wecker stellen», wirkt kurios, denn gewählt wird sie besonders von jenen, die den Wecker nicht mehr zwingend stellen müssen.
Work-Life-Balance geht vor
Obwohl die Freisinnigen jüngere Köpfe mit Potenzial haben, tun sie sich in diesem Segment schwer. Es hilft auch nicht, dass mit dem Luzerner Ständerat Damian Müller und dem Zürcher Nationalrat Andri Silberschmidt zwei profilierte Vertreter der jüngeren Generation nicht für das Parteipräsidium kandidieren wollten. Sie galten als Traumbesetzung.
Müller und Silberschmidt können das gesamte FDP-Spektrum «abholen». Doch beide wollten ihr Leben nicht komplett der Politik unterordnen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass selbst die Wirtschaftspartei FDP nicht vom Anspruch an eine funktionierende Work-Life-Balance «verschont» wird – wobei dies mittlerweile sogar für die SVP gilt.
Befürworterin und Skeptiker
Nun sollen es Susanne Vincenz-Stauffacher und Benjamin Mühlemann richten. Sie wurden quasi in letzter Minute aus dem Hut «gezaubert». Was ihrer Nominierung den Beigeschmack einer Verlegenheitslösung verleiht. Denn eine Doppelspitze ist für bürgerliche Parteien gewöhnungsbedürftig. Ob sie sich im politischen Alltag bewährt, bleibt offen.
In der Europafrage etwa gilt Vincenz-Stauffacher als Unterstützerin des neuen Pakets und Mühlemann als Skeptiker. Ein Interview mit dem neuen Führungsduo kam «aufgrund übervoller Agenden» vor der Wahl am Samstag nicht zustande. Sie wird kaum zu Diskussionen führen, was sich von der Debatte über die Bilateralen III nicht behaupten lässt.
Alt-Bundesräte sind gespalten
Trotz Beschränkung der Redezeit auf eine Minute könnte es ein langer Samstag werden. Befürworter und Gegner haben sich in Stellung gebracht. Der Riss in der FDP reicht bis zu Alt-Bundesräten. Der ehemalige Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann schoss in der NZZ mit grossem Kaliber gegen die Bilateralen III – und Parteikollege Cassis.
Den konträren Standpunkt vertritt Ex-Finanzminister Kaspar Villiger. An der Vernissage des neuen Buchs des früheren Baselbieter Ständerats René Rhinow bezeichnete er die neuen Verträge als «taugliche Lösung» für die Schweiz. Und Pascal Couchepin will seine Parteispende im kommenden Wahljahr erhöhen, wenn die FDP am Samstag Ja sagt.
Ein Ja ist absehbar
Die gegensätzlichen Wortmeldungen der früheren Magistrate zeigen die Konfliktlinie auf, entlang derer sich die Debatte auch landsweit entwickeln wird. Die Gegner beklagen den angeblichen Souveränitätsverlust, die Befürworter betonen das Gesamtbild und die Bedeutung guter Beziehungen der Schweiz mit der EU in einem zunehmend rauen geopolitischen Umfeld.
Diese Sichtweise dürfte sich durchsetzen, vielleicht sogar deutlicher als erwartet. «Die FDP ist eine Wirtschaftspartei, eine Nein-Parole wäre nur schwer zu erklären und noch schwerer auszuhalten», schreibt die NZZ. Als Konzession an die Gegner könnten sich die Delegierten dafür aussprechen, die neuen Verträge dem Ständemehr zu unterstellen.
Romandie als Minenfeld
In diesem Punkt sind selbst die aktuellen FDP-Mitglieder in der Landesregierung gespalten. Ignazio Cassis hat die Argumente des Bundesamts für Justiz übernommen, er lehnt das Ständemehr ab. Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter hingegen ist dafür, wie die NZZ just ein paar Tage vor der DV vom Samstag herausgefunden hat. «Zufälle» gibt's …
Eine Schlüsselrolle in Bern werden die traditionell europafreundlichen Westschweizer spielen. Und hier droht neben dem ohnehin brisanten Europadossier ein Minenfeld für die FDP, denn in der Romandie können die Libéraux-Radicaux am ehesten noch als Volkspartei gelten, besonders in den protestantisch geprägten Kantonen Genf, Neuenburg und Waadt.
Opportunistische Mitte
In der Deutschschweiz spielen die Freisinnigen höchstens in Appenzell-Ausserrhoden eine ähnlich dominante Rolle. Darin steckt Konfliktpotenzial, denn die im Westen nach wie vor schwachen Grünliberalen lauern auf eine Chance, um bei der FDP zu «wildern». Umgekehrt könnte ein Ja zu den Bilateralen III in der Deutschweiz der SVP in die Hände spielen.
Das neue Co-Präsidium hat viel Arbeit vor sich. Eine Kakofonie zu den Bilateralen III könnte der FDP schaden. Die Mitte-Partei, die ebenfalls gespalten ist, verhält sich zurückhaltender, oder «opportunistisch», wie der eingangs erwähnte Wirtschaftsmann schnödete. Beim Streit um den zweiten Bundesratssitz könnte dies ins Gewicht fallen.