20 Jahre Schuldenbremse: Jetzt droht die Vertreibung aus dem «Paradies»
Für viele ist die Schweiz ein finanzpolitisches Paradies, mit tiefen Steuern und geringen Schulden. Das hat sie auch der Schuldenbremse zu verdanken, die vor 20 Jahren eingeführt wurde. Das Stimmvolk hatte ihr 2001 mit 85 Prozent Ja zugestimmt. Für das Finanzdepartement war das Jubiläum Anlass für einen Festakt am Dienstag in Bern.
Nicht zuletzt dank der Schuldenbremse habe die Schweiz die Krisen der letzten Jahre «gut gemeistert», erklärte Sabine D’Amelio-Favez, die Direktorin der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV). Dabei sei sie im Parlament «enorm umstritten» gewesen, erinnerte sich der damalige Finanzminister Kaspar Villiger in einer launigen Ansprache.
Schulden seien nicht «des Teufels», betonte der 82-jährige Luzerner, sondern zur Förderung des Wohlstands «unentbehrlich». In einer Demokratie aber gebe es eine Neigung zur Verschuldung, und in guten Zeiten würden die Menschen sorglos. Gegen die Ausgabefreude des Parlaments habe schon sein Amtsvorgänger Otto Stich (SP) vergeblich angekämpft.
Mehr Ausgaben trotz Bremse
Die Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahren trug zusätzlich zu einem starken Anstieg der Staatsverschuldung bei. Als Ausweg wurde die Schuldenbremse eingeführt. Sie ist nicht starr, sondern wirkt antizyklisch, wie Villiger betonte. In Krisenzeiten darf der Staat Defizite machen, die in Wachstumsphasen durch Überschüsse kompensiert werden müssen.
Diese Rechnung ist in den letzten 20 Jahren aufgegangen, dank einer langen Tief- oder sogar Negativzinsphase nach der Finanzkrise 2008 und dank sprudelnder Einnahmen. Seit der Einführung der Schuldenbremse seien die staatlichen Ausgaben von 50 auf über 80 Milliarden Franken angestiegen, sagte die heutige Finanzministerin Karin Keller-Sutter.
Sonderschulden wegen Corona
Kein Politikbereich ausser der Landesverteidigung habe durch die Schuldenbremse Nachteile erlitten, sagte ihr FDP-Kollege Kaspar Villiger. So hätten die Sozialausgaben weiter zugenommen. Ausserdem kann das Parlament mit qualifiziertem Mehr (mindestens der Hälfte der Mitglieder von National- und Ständerat) ausserordentliche Ausgaben beschliessen.
Diese Ausnahme wurde für unvorhergesehene Situationen wie schwere Rezessionen oder Naturkatastrophen eingeführt. Dazu kann man die Coronapandemie zählen, die zu einer «Sonderverschuldung» von fast 30 Milliarden Franken geführt hat. Eine «Ergänzungsregel» von 2009 verlangt, dass sie mittelfristig über den ordentlichen Haushalt kompensiert wird.
«Neue Ausgaben und Begehren»
Der Bundesrat hat letztes Jahr dafür einen Zeithorizont bis 2035 vorgegeben, doch ob diese Rechnung aufgeht, ist zumindest fraglich. Für die NZZ steht die Schuldenbremse nach 20 Jahren womöglich «vor ihrem bisher grössten Stresstest». Denn der Bund sei «mit einer Vielzahl neuer Ausgaben und Begehren konfrontiert», bestätigte Karin Keller-Sutter.
So will der Bundesrat eine Kapitalspritze für die SBB von 1,2 Milliarden Franken im Jahr 2024 ebenfalls ausserordentlich verbuchen, obwohl man kaum von einer Ausnahmesituation sprechen kann. Die NZZ spricht von Tricks. Und in den nächsten Jahren drohen satte Mehrausgaben im In- und Ausland, zum Leidwesen der Finanzministerin.
- Das Militär war das «Hauptopfer» der Schuldenbremse. Jetzt hat der Wind gedreht. Als Folge des Ukraine-Kriegs beschloss das Parlament einen Anstieg der Armeeausgaben bis 2030 auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also von knapp sechs auf acht Milliarden Franken pro Jahr. Der Bundesrat will dieses Ziel erst 2035 erreichen.
- Der Bund beteiligt sich mit rund 20 Prozent an den AHV-Ausgaben. Wegen der Demografie werden sie weiter ansteigen. Keller-Sutter möchte auf die Bremse treten, doch ein moderater Sparvorschlag wurde prompt an die Medien «durchgereicht».
- Im Parlament hängig sind Forderungen, der Bund müsse mehr Geld für Kitas und Prämienverbilligungen (mit der SP-Prämieninitiative als Druckmittel) ausgeben. In beiden Fällen bremst der Ständerat, dennoch sind Mehrausgaben absehbar.
- Der Klimaschutz geht ebenfalls ins Geld. Das im Juni angenommene Klimagesetz enthält zwei Milliarden Franken für den Ersatz von Öl-, Gas- und Elektroheizungen. Hinzu kommen Subventionen für den Ausbau erneuerbarer Energien.
- An der letztjährigen Klimakonferenz in Sharm el Scheich wurde ein Fonds beschlossen, mit dem ärmere Länder für die von den Industriestaaten verursachten Klimaschäden entschädigt werden. Das betrifft auch die Schweiz. Wer wie viel zahlen soll, ist noch unklar.
- Gefordert sein wird die Schweiz beim Wiederaufbau der Ukraine. Sie steht unter Druck aus dem Ausland. Wenn sie kein russisches Geld konfiszieren will, muss sie selber zahlen. Die vom Bundesrat beschlossenen 1,8 Milliarden Franken werden bei Weitem nicht ausreichen.
- Absehbar ist, dass die Schweiz in Zukunft einen höheren Kohäsionsbeitrag an die EU zahlen muss. Die EU-Kommission hat entsprechende Erwartungen formuliert, und die Gewerkschaften erhoffen sich damit Konzessionen beim Streitthema Lohnschutz.
Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auf die «Sparfüchsin» Karin Keller-Sutter kommen schwierige Zeiten zu. «Wir stehen an einem Wendepunkt», sagte sie am Dienstag in Bern. Im Budget 2024 könne die Schuldenbremse noch eingehalten werden, aber für die Zukunft stellte sie Sparmassnahmen in Aussicht.
«Die strengste der Welt»
Für Kritiker ist die Schuldenbremse Teil des Problems. Sie sei «die strengste der Welt», meinte der Lausanner Ökonom Marius Brülhart an einer Podiumsdiskussion. In Deutschland und Österreich, wo nach Schweizer Vorbild eine Bremse eingeführt wurde, sei eine gewisse Neuverschuldung erlaubt. Die Schweiz aber verlange unter dem Strich Überschüsse.
Brülhart wünscht sich stattdessen mehr Spielraum für Steuersenkungen, doch das ist Wunschdenken. Ein Vertreter des Bundes sagte am Dienstag im Gespräch mit watson, man müsse auch über Mehreinnahmen nachdenken. So sei die Schweizer Mehrwertsteuer im internationalen Vergleich niedrig. Anders lasse sich die Schuldenbremse schwer einhalten.
Die Schuldenbremse mag in den letzten 20 Jahren eine Erfolgsgeschichte gewesen sein, doch nun stösst sie zunehmend an ihre Grenzen. Mit «Tricks» wie ausserordentlichen Ausgaben verschafft man sich höchstens etwas Zeit. Am Ende wird die Rechnung fällig – und der Schweiz droht die Vertreibung aus dem finanzpolitischen «Paradies».