Es war ein überraschendes Argument, weshalb er gegen eine Ausgangssperre ist: «Wir haben schon sechs oder sieben Grundrechte eingeschränkt», sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). «Wir sollten nicht noch weiter gehen.»
Das trifft auch die Situation in der Schweiz auf den Punkt. Recherchen zeigen: Der Bundesrat hat mit der ausserordentlichen Lage nach Epidemiengesetz gleich sieben Grundrechte eingeschränkt: das Recht auf persönliche Freiheit, Glaubensfreiheit, Anspruch auf Grundschulunterricht, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit. Die Versammlungsfreiheit ist ganz stillgelegt.
Damit ist ein Viertel aller Grundrechte der Bundesverfassung eingeschränkt. Das überrascht selbst Georg Müller, emeritierter Staatsrechts-Professor: «Mir war nicht bewusst, wie viele Grundrechte in welchem Masse eingeschränkt sind.» Er half mit, die betroffenen Grundrechte zu eruieren:
⚠️ Ungleichbehandlung beim Alter
Art. 8 Rechtsgleichheit
Inhalt: Niemand darf diskriminiert werden wegen Herkunft, Rasse, Geschlecht und Alter. Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich zu behandeln.
Bewertung: Kanton Uri beschloss – vorübergehend – ein Ausgehverbot für über 65-Jährige. Und das Tessin verhängte für sie ein Einkaufsverbot.
⛔️ Eingeschränkt
Art. 10 Recht auf persönliche Freiheit
Inhalt: Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit (Bewegungsfreiheit).
Bewertung: Die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung ist stark eingeschränkt.
Art. 15 Glaubens- und Gewissensfreiheit
Inhalt: Jede Person hat das Recht, ihre Religion in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen.
Bewertung: Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen sind verboten. Beerdigungen sind nur im engen Familienkreis erlaubt.
Art. 19 Anspruch auf Grundschulunterricht
Inhalt: Der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht ist gewährleistet.
Bewertung: Präsenzveranstaltungen an Schulen und Universitäten sind verboten.
Art. 23 Vereinigungsfreiheit
Inhalt: Jede Person hat das Recht, Vereinigungen zu bilden und sich an Tätigkeiten zu beteiligen.
Bewertung: Physische Gründungsversammlungen von Vereinigungen sind verboten, genauso Tätigkeiten mit physischer Präsenz.
Art. 27 Wirtschaftsfreiheit
Inhalt: Es gilt freie Wahl des Berufes und freier Zugang zu einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit.
Bewertung: Restaurants und Freizeit-, Kultur- und Sportbetriebe müssen geschlossen bleiben.
🚫 Stillgelegt
Art. 22 Versammlungsfreiheit
Inhalt: Jede Person hat das Recht, Versammlungen zu organisieren oder an ihnen teilzunehmen.
Bewertung: Veranstaltungen sind verboten. Es sind keine Menschenansammlungen über fünf Personen erlaubt.
Art. 34 Politische Rechte
Inhalt: Politische Rechte wie Wahl- und Abstimmungsfreiheit, Anspruch auf freie, unverfälschte Willensbildung und – Kundgabe sind gewährleistet.
Bewertung: Bundesabstimmungen vom 17. Mai wurden verschoben, Demonstrationen und Unterschriften-Sammlungen für Initiativen und Referenden sind verboten.
Dazu kommt: Der Bundesrat hat auch die politischen Rechte auf Bundesebene praktisch stillgelegt. Eidgenössische Abstimmungen wurden verschoben, Fristen von Initiativen und Referenden stillgelegt, Unterschriftensammlungen verboten. Die Gemeinden nehmen weder Unterschriften entgegen noch beglaubigen sie diese.
>> Coronavirus: Hier geht's zum Liveticker mit allen News
Netzaktivist Daniel Graf spricht von einem eigentlichen «Shutdown der Demokratie». Graf sah sich gezwungen, «WeCollect» stillzulegen, seine Plattform für digitale Unterschriftensammlungen. Es ist auch verboten, Unterschriftslisten online zugänglich zu machen.
Dennoch gibt es kaum Kritik am Notrechts-Regime des Bundesrats. Zu präsent sind die Schockbilder aus dem Ospedale Papa Giovanni XXIII in Bergamo. Die Gänge sind überfüllt, in der Notaufnahme befinden sich die Köpfe der Patienten in «Luftblasen», die den Luftdruck in der Lunge ausgleichen sollen. Die Coronavirus-Pandemie ist gemäss Uno-Generalsekretär António Guterres eine «Bedrohung für die gesamte Menschheit».
Die Menschen finden es richtig, dass der Bundesrat den Schutz der Gesundheit – Artikel 118 der Bundesverfassung – temporär höher gewichtet als verschiedene Grundrechte. «Das beweist, wie hoch die Bevölkerung Autorität und Glaubwürdigkeit von Bundesrat und Behörden einschätzt», sagt FDP-Nationalrat Kurt Fluri, der als staatspolitisches Gewissen des Parlaments gilt.
Doch es schleichen sich Zweifel ein, ob die Grundrechte tatsächlich wieder auf den alten Stand zurückgedreht werden können, wenn die Coronakrise dereinst überstanden ist. «Die Pandemie wird das Verhältnis zwischen Freiheit und Kontrolle, privater Autonomie und ‹Big Government›, zwischen Individuum und Gemeinschaft neu definieren», schrieb NZZ-Chefredaktor Eric Guyer.
Schon jetzt sind zwei weitere Grundrechte unter Druck: die Medienfreiheit (Artikel 17) und der Schutz der Privatsphäre (Artikel 13).
Die Medien erhalten zurzeit zwar viel Lob für ihre Berichterstattung und verzeichnen Rekord-Einschaltquoten. Sie werden aber gleichzeitig «moralisch unter Druck gesetzt, freiwillig Zensur auszuüben», wie selbst Nationalrat Fluri feststellt. Nach dem Motto: Krisenzeit ist nicht Kritikzeit.
Eine Umfrage der Mediengewerkschaft Impressum bei Journalisten zeigt, dass die Medien aber auch mit ernsthaften Einschränkungen kämpfen. «In den Antworten wird von Zugangssperren über Aussageverweigerungen bis zu handfester Zensur alles berichtet», sagt Impressum-Geschäftsführer Urs Thalmann.
Für ihn leisten sich die Behörden damit «einen Bärendienst». Ihr Vertrauen sei «so wichtig wie schon lange nicht mehr». Werde die Berichterstattung eingeschränkt, erfahre das die Bevölkerung sehr schnell – was wiederum auf die Behörden zurückschlage.
In Zeiten des Coronavirus steigt auch der Druck, die Privatsphäre aufzuweichen. Südkorea – eine parlamentarische Demokratie – nutzt Datenüberwachung bei Kreditkarten, Mobiltelefonen und Überwachungskameras, um Wege und Kontakte infizierter Personen über zwei Wochen hinweg zurückzuverfolgen.
Der Bundesrat hat nun mit der Swisscom mit einer Auswertung anonymer Handy-Bewegungsdaten aus der Vergangenheit begonnen. Sie soll zeigen, ob die Bevölkerung die Massnahmen der Regierung umsetzt.
An der Medienkonferenz vom Freitag fragte ein Journalist Gesundheitsminister Alain Berset, ob die ausserordentliche Lage auch eine Überwachung der Handys in Echtzeit erlauben würde. «Notrecht würde ziemlich viel erlauben», gestand Berset ein. «Schauen Sie sich Artikel 184 und 185 der Bundesverfassung an.»
Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) macht sich offenbar Überlegungen, wie es Infizierte und gefährdete Menschen besser erfassen und begleiten kann. Ein freiwilliges System werde erwogen, sagte Berset. Gleichzeitig betonte der Gesundheitsminister aber, die Regierung müsse in Zeiten von Notrecht der Verhältnismässigkeit und den Grundprinzipien des Staates «sehr hohe Bedeutung» einräumen.
Ein Ende der Grundrechts-Einschränkungen ist vorerst nicht abzusehen. «Ich befürchte, dass sie weitergehen, möglicherweise ein halbes Jahr», sagt Müller. Deshalb werde die «demokratische Legitimierung der Massnahmen zentral». Spätestens nach einem halben Jahr ist sie zwingend: Dann muss der Bundesrat dem Parlament eine Botschaft vorlegen.
Spätfolgen befürchtet Nationalrat Kurt Fluri trotzdem. Initiativen zur Einschränkungen von Grundrechten und des Parlaments und zu einer Zentralisierung des Landes «hätten in Zukunft wohl grössere Chancen, wenn die Erfahrungen mit diesen Restriktionen nicht schlecht sind».
Soweit soll es nicht kommen, geht es nach den Grünen. «Für uns ist absolut klar, dass die Grundrechte so schnell wie möglich wieder installiert werden müssen», sagt Präsidentin Regula Rytz. «Sobald es die epidemologische Situation erlaubt.» Kein Verständnis hat sie zudem für Einschränkungen des Persönlichkeitsschutzes, wie sie unter dem Stichwort Corona-Überwachung diskutiert werden.
Auch das Bundesamt für Justiz hält – wie Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet – die Grundrechte hoch. Eine Ausgangssperre, sagt Direktor Martin Dumermuth, wäre heute «nicht verhältnismässig».
Nur: Würde er mit diesem Rat durchdringen? Das ist ungewiss. Im Notrecht entscheidet nur einer: der Bundesrat. (aargauerzeitung.ch)