Neben der Impfung ist es vor allem das Covid-Zertifikat, das den Gegnern der Corona-Massnahmen ein Dorn im Auge ist. Ihr Vorwurf: Es spalte die Gesellschaft und mache aus Ungeimpften Menschen zweiter Klasse.
Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung sieht das anders. 62 Prozent der Wählenden stimmten bei der Abstimmung Ende November für das Covid-Gesetz und somit auch für den Einsatz des Covid-Zertifikates.
Seither hat sich jedoch einiges geändert. Die neue Virusvariante Omikron hat übernommen und sorgt für rekordhohe Fallzahlen in der Schweiz. Gleichzeitig scheinen sich die Fallzahlen von den Hospitalisierungszahlen zu entkoppeln – Omikron ist milder.
Obwohl die schiere Anzahl an Fällen die Spitäler weiterhin unter Druck setzt, zeigen sich einige Expertinnen und Politiker vorsichtig optimistisch. Gesundheitsminister Alain Berset sagte an der Pressekonferenz vom Mittwoch zum Beispiel:
Andere denken bereits einen Schritt weiter. Der Zürcher Staatsrechtsprofessor Felix Uhlmann erklärte gegenüber der NZZ: «Es ist an der Zeit, die bisherige Massnahmen-Logik zu überdenken». Er plädiert für eine Abschaffung des Covid-Zertifikats.
Uhlmann, der sich in der Vergangenheit für das Covid-Gesetz und die Zertifikatspflicht starkgemacht hat, begründet dies mit einer Zeitenwende in der Pandemie. «Nach allem, was man bis jetzt weiss, ist das Übertragungsrisiko bei Geimpften und Genesenen nicht mehr dermassen kleiner, um bei den Ungeimpften so einschneidende Beschränkungen noch zu rechtfertigen.» Eine Impfpflicht für über 60-Jährige würde Uhlmann im Hinblick auf mögliche Ausstiegsszenarien nicht ausschliessen, wie er gegenüber der NZZ sagte.*
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Der Bundesrat sieht das momentan noch anders. Am Mittwoch verlängerte er die Massnahmen, inklusive 2G, 2G+ und 3G, bis Ende März.
Im Gespräch mit watson zeigen sich auch drei weitere Vertreter aus Politik, Medizin und Recht nicht komplett überzeugt von den Vorschlägen Uhlmanns.
Der Infektiologe Huldrych Günthard vertritt eine klare Meinung. «Wir sind einfach noch nicht an diesem Punkt angekommen, um das Zertifikat abzuschaffen.» Die Schweiz hätte noch nicht einmal den Peak der Infektionen erreicht. Der Entkoppelungs-Trend stimme ihn zwar zuversichtlich, «aber von Hauruck-Übungen halte ich nichts».
Es gebe nach wie vor viele Patienten in den Spitälern, «auch auf den Intensivstationen». Eine Abschaffung des Zertifikats würde ein falsches Signal an die Bevölkerung senden, welche sich dann womöglich noch weniger an Vorsichtsmassnahmen halten würde.
Weiter gibt Günthard zu bedenken, dass das Zertifikat nicht nur eine direkte Entlastungswirkung für die Spitäler hat. «Das Zertifikat soll auch einen gewissen Druck auf die ungeimpften Personen ausüben, sich doch noch impfen zu lassen».
Und weil die Quote an Ungeimpften vor allem bei den jüngeren Generationen noch verbesserungswürdig ist, hält der Infektiologe auch nichts von einer Impfpflicht für über 60-Jährige. «Bei dieser Gruppe gibt es nicht mehr viel zu holen. Ausserdem könnte man so etwas auch nicht einfach schnell umsetzen.»
Auch für Staatsrechtler Markus Schefer ist es noch zu früh, um die Zertifikatspflicht abzuschaffen. Der Berufskollege von Felix Uhlmann gibt zu bedenken, dass es noch zu viele Unsicherheiten bezüglich Omikron gebe. «Gegenwärtig scheint die weitere Entwicklung noch weit offen. Und man weiss noch nicht, welche Long-Covid-Folgen die Omikron-Welle hat.» Es sei jedoch wichtig, die Diskussion über ein mögliches Ende der Zertifikatspflicht zu starten.
Wirklich abschaffen könne man die Zertifikatspflicht aber erst, wenn sich die naturwissenschaftlichen Fragen besser geklärt hätten. «Wenn es sich zeigt, dass die Auswirkungen einer Infektion die Einschränkungen der individuellen Freiheit nicht mehr rechtfertigen, dann muss man die Zertifikatspflicht aufheben.»
Es sei also eine Güterabwägung, findet Schefer. In einem ersten Schritt würde es deswegen auch mehr Sinn ergeben, über den Zertifikatseinsatz in einzelnen Bereichen nachzudenken, und nicht gleich über die komplette Abschaffung.
Zu einer Impfpflicht für über 60-Jährige gibt er zu bedenken, dass dafür erst eine Grundlage im Gesetz geschaffen werden müsste. Darüber hinaus würde ein Obligatorium neue Ungleichbehandlungen schaffen. «Die Idee dahinter ist ja, dass die besonders vulnerablen Personen geschützt werden. Ältere Menschen machen sicherlich einen Grossteil der vulnerablen Personen aus, allerdings längst nicht alle.»
Es gebe tausende weitere Menschen in der Schweiz, die ebenso vulnerabel seien und jünger als 60 Jahre als sind. Die «Ungerechtigkeit» würde sich also einfach verschieben und eine Vielzahl neuer Probleme schaffen.
Dass sich auch geimpfte und genesene Personen mit Omikron anstecken, spreche laut GDK-Präsident Lukas Engelberger nicht grundsätzlich gegen das Zertifikat. «Das Ziel sämtlicher Massnahmen von Bund und Kantonen in der gegenwärtigen Phase ist es, das Gesundheitswesen zu schützen.»
Weil geimpfte und insbesondere geboosterte Personen deutlich besser vor schweren Krankheitsverläufen geschützt seien, habe die Zertifikatspflicht nach wie vor ihre Berechtigung.
Auch sei momentan nicht genügend geklärt, wie sich die epidemiologische Lage entwickle. «Zwar gibt die Entwicklung der vergangenen Tage Anlass zur Zuversicht, gleichzeitig ist die momentane epidemiologische Lage von einer grossen Unsicherheit geprägt.» Die Aufhebung der Zertifikatspflicht stehe in Engelbergers Augen deshalb noch nicht an.
Die Diskussion über eine Abschaffung der Zertifikatspflicht sei nichtsdestotrotz wichtig. «Die Zertifikatspflicht ist breit akzeptiert. Gleichzeitig ist sie – gerade in Verbindung mit 2G – eine einschneidende Massnahme. Sie darf auf jeden Fall nicht länger als unbedingt nötig gelten», sagt Engelberger.
*In einer ersten Version des Artikels wurden die Aussagen von Felix Uhlmann falsch wiedergegeben. Dies wurde korrigiert. Wir entschuldigen uns für diesen Fehler.
Snowy
Dass wir darüber überhaupt diskutieren müssen!?
War immer klar gemäss Bundesrat, dass das Zertifikat ultimo ratio sein muss, kein Werkzeug um eine (bald) endemische Krankheit zu steuern.
Julie86
Massnahmen dürfen aber nicht darauf abzielen Druck aufzubauen, sondern müssen einen direkten epidemiologischen Nutzen aufweisen. Mit diesem Zitat gibt r den Zertifikatskritikern zu 100% recht.
"Bei dieser Gruppe (Ü60) gibt es nicht mehr viel zu holen"
Das ist nicht sein ernst? Ü60 hat die mit Abstand höchste Hospitalisierungsrate und damit das grösste Risiko auf einen schweren Verlauf. Im Gegensatz dazu hätte eine Durchimpfung von U60 wohl einen wesentlich kleineren Nutzen...
José Jalapeño