Das Profil der minderjährigen Melanie wird den interessierten Männern in einem Experiment praktisch auf dem Silbertablett serviert. Im Hintergrund wirken Facebook-Algorithmen: Die streng geheimen Funktionen analysieren automatisch das Verhalten aller Facebook-Nutzer und generieren daraus individuelle Vorschläge: «Personen, die du vielleicht kennst» nennt sich die Funktion, welche auf dem sozialen Netzwerk täglich Millionen Freundschaften knüpft.
Das falsche Profil von Melanie erhält so innerhalb einer Woche über 350 Freundschaftsanfragen. Und das aus der ganzen Welt. Dass ausgerechnet im grössten sozialen Netzwerk der Welt eine solche Entwicklung möglich ist, ist bezeichnend. CEO Mark Zuckerberg und sein Team setzen alles daran, dass die 1,7 Milliarden Facebook-User untereinander möglichst gut vernetzt sind. Denn je mehr Freunde ein Nutzer hat, desto mehr Zeit verbringt er auf Facebook und desto mehr Werbeeinnahmen bringt er dem Grosskonzern — das zumindest ist die simple und doch äusserst treffende Überlegung der Firma.
«Im konkreten Fall von Melanie scheinen die Facebook-Algorithmen versagt zu haben», findet Laurent Sédano. Er ist Fachexperte für Medienkompetenz bei Pro Juventute Schweiz und setzt sich für die Sicherheit von Jugendlichen im Netz ein. Dieselbe Aufgabe hätte im Fall der fiktiven Melanie auch Facebook wahrnehmen müssen, sagt Sédano: «Auf die Schutzmechanismen der Plattformen darf man aber nicht vertrauen. Es sollte nicht sein, dass Minderjährige so aktiv als potenzielle Freundin präsentiert werden. Und schon gar nicht derart international.»
Aber genau so läuft es im konkreten Fall ab. Melanie wird denjenigen Personen als Freundin vorgeschlagen, die Interesse an der Bekanntschaft mit einem unvorsichtigen Mädchen haben könnten. Wer als normaler Nutzer nach dem Profil der Minderjährigen sucht, wird es nicht finden – das ist einer der wenigen Facebook-Schutzmechanismen, die auch tatsächlich funktionieren.
Wenn aber die Algorithmen merken, dass ein User vorwiegend Freundschaftsanfragen und Nachrichten an junge Frauen verschickt, vereinfacht Facebook automatisch den Zugang zu jenen Personen. Dieser Mechanismus führt dazu, dass potenzielle Sexualstraftäter fast schon automatisch zu Profilen wie dem von Melanie geführt werden.
Und wenn sich diese jungen Mädchen nicht aktiv gegen solche Anfragen wehren, setzt sich das Ganze innerhalb des Netzwerks viral fort. Genau das zeigt sich auch auf den Profilen von Melanies «Freunden». Ein Grossteil dieser Männer ist mit erstaunlich vielen Frauen befreundet — viele davon überdurchschnittlich gut aussehend und noch sehr jung. Gleichzeitig sind diese Männer auch untereinander sehr gut vernetzt: Bis zu zwölf gemeinsame Freunde hat die fiktive Melanie mit einzelnen Personen. Melanie ist also kein Einzelfall — dahinter steht ein System.
Zum konkreten Fall von Melanie will Facebook keine Stellung nehmen. Ein Sprecher betont, dass es durchaus Schutzmechanismen und Richtlinien für minderjährige Nutzer gäbe. Wenn jedoch Jugendliche diese kategorisch nicht beachten oder umgehen, sei es nicht die Schuld von Facebook, dass Männer Kontakt mit einer Minderjährigen aufnehmen.
Damit entzieht sich die Firma aus der Verantwortung, die sie eigentlich für ihre Kunden hätte. Auch für jene, die unvorsichtig sind. Das wirkt für Beobachter insbesondere deshalb problematisch, weil die erwähnten Schutzmechanismen keineswegs halten, was sie versprechen. Konkret handelt sich dabei vor allem um eine eingeschränkte Suchfunktion und eine gelbe Box, welche Nutzer dazu auffordert, keine Freundschaftsanfragen von Fremden anzunehmen. (aargauerzeitung.ch)