Es gibt ein Davor und ein Danach. Vor dem Kind war Renée (37) und Michael Grandjean (44) Gleichstellung wichtig.
Mit dem Kind kam die Realität.
«Die Gleichstellung», sagt Michael Grandjean, «wir haben sie gekübelt. Nicht weil wir nicht wollen würden, sondern schlicht, weil sie nicht funktioniert.»
Er arbeitet mehr, sie betreut mehr. Das stimmt so, für beide. Meistens, doch dazu später.
Wir befinden uns in Zürich-Wiedikon in einer renovierten Altbauwohnung. Ein umgekipptes Kindervelöli liegt vergessen im grossen Garten, der das Vier-Parteien-Haus umgibt. Erinnert an diesem garstigen Spätherbst-Abend an den Sommer.
«Ein Glücksgriff von Wohnsituation», sind sich die Grandjeans einig. Nicht günstig, aber den Preis «absolut wert».
Das erweiterte «Kafi complet» ist aufgegessen, der bald vierjährige Théo ganz aufgeregt. Als Dessert darf er Marshmallows über der Kerzenflamme rösten.
Des Kleinen Entzücken ist ansteckend, kurz darauf bräteln alle zusammen.
Der Duft nach karamellisiertem Zucker breitet sich in der Küche aus.
Renée Grandjean ist selbstständige Hausärztin in einer Gemeinschaftspraxis, Michael Grandjean Leiter IT & E-Learning bei der Lufthansa Aviation Training. Er arbeitet 100 Prozent in vier Tagen, was lange Tage und auch mal Abend- und Wochenend-Einsätze zur Folge hat. Sie kommt auf 60 bis 80 Prozent, was ohne Zusatzstunden abends, am Wochenende und an Mami-Tagen ebenfalls nicht möglich wäre.
Finanziell würde es andersherum mehr Sinn machen, sagt Michael Grandjean: «Renée verdient besser als ich.»
Doch mehr als den einen Papa-Tag, den er liebe – «nie bin ich so unbeschwert, wie wenn ich mit Théo in seine Welt eintauche» –, möchte er nicht.
Und Renée Grandjean möchte «nie wieder 100 Prozent arbeiten». Ein Zoo-Besuch am Mama-Tag mit Théo – «das schweisst uns zusammen, gibt mir Kraft».
Zum Modell der Grandjeans sagt Katja Rost, Professorin für Soziologie der Universität Zürich: «Während eine Mehrheit der Mütter 50 bis 60 Prozent arbeitet, hat sich bei den Vätern ein hohes Pensum zwischen 80 bis 100 Prozent eingependelt.»
In der Forschung spreche man vom «Gender-Equality-Paradox». Rost: «Je gleichberechtigter Mann und Frau werden, desto mehr verfestigen sich Geschlechter-Unterschiede wieder.» Eine Erklärung dafür sei die Wahlfreiheit.
Und: «Die Biologie spielt halt doch eine Rolle», sagt Rost. «Nichts im Leben einer Frau ist so einschneidend wie die Geburt eines Kindes und die darauffolgende Zeit, körperlich und hormonell betrachtet.» Als Mutter einstweilen auf die Karriere zu verzichten oder im Beruf zu reduzieren, sei nachvollziehbar.
Es sei klischiert: «Wir beobachten, dass es Müttern wichtiger ist als Vätern, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen», sagt Rost.
Heute könnten sich beide Partner gegen die soziale Norm entscheiden, bräuchten dann aber ein dickes Fell.
Die Grandjeans, seit 2017 verheiratet, haben das Glück, finanziell gut zu leben. «Auch mit Kind müssen wir unseren – zugegebenermassen hohen – Lebensstandard nicht anpassen.»
Klar, die finanziellen Lücken im Alter, die gäbe es. Um das auszugleichen, zahlen beide jährlich den Maximalbetrag in die 3. Säule ein. Zudem hat sich Renée Grandjean kürzlich in ihre PK eingekauft und die «Löcher gestopft».
Sich das leisten zu können, ist ein Privileg, wie ein Blick auf Daten zeigt. Die «Mutterschafts-Strafe», die laut Professorin Rost etwa entsteht, «weil die Frauen ihr Pensum eher reduzieren und dann vom Arbeitsmarkt weg sind», ist belegbar. Die Konsequenz: Auch zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes verdienen Mütter in der Schweiz im Schnitt 60 Prozent weniger als Väter.
Zum Mutter-Malus forscht auch die diesjährige Wirtschaftsnobelpreisträgerin Claudia Goldin. Auch sie kommt zum Schluss: Der Lohnunterschied zwischen Männer und Frauen hängt mit der Mutterschaft zusammen.
Die Harvard-Professorin Goldin hat dafür den Begriff «greedy jobs» geprägt, «gierige Arbeit». «Gierige Arbeit bedeutet, dass der Lohn mit zusätzlichem Arbeitseinsatz bei vielen Jobs ab einer gewissen Stufe überproportional ansteigt», sagt Rost, die sich auf Wirtschaftssoziologie spezialisiert hat.
Heisst: Wer immer verfügbar ist - egal ob spätabends oder am Wochenende - macht schneller Karriere als eine Person, die in den erwähnten Zeiten den Job Familie managt. Da letzteres mehrheitlich Mütter sind, leidet deren Einkommen.
Das Familiensystem der Grandjeans ist fragil. Obwohl klar durchstrukturiert: 2 Kita-Tage, 2 Mama-Tage, 1 Papa-Tag, der Samstag halb Papa-, halb Mama-Tag und der Sonntag der Familientag.
«Seit wir ein Kind haben, gibt es mehr Reibungen zwischen uns», sagen beide. Rund um die Uhr fremdbestimmt zu sein, abwechslungsweise vom Kind oder vom Job – und daneben der Beziehung, den Freunden, der Band «grandjean» und sich selbst gerecht zu werden: anstrengend.
Dabei haben sie optimiert, wo sie können. Den Haushalt haben die Grandjeans mittels Ämtliplan aufgeteilt. Jede zweite Woche kommt für einige Stunden eine Putzhilfe. Das bewährt sich – «wer wie viel im Haushalt macht, darüber streiten wir kaum mehr».
Das Problem bei den Grandjeans liegt woanders: Beide sind erschöpft.
«Auf einer Skala von 1 bis 10 liegt meine Erschöpfung aktuell bei 8 bis 9», sagt Renée Grandjean.
«Ich habe einen Job, der fordert und mit viel Verantwortung für andere Menschen verbunden ist.» Ihr Beruf gehe weit über «nine to five»-Büroarbeitszeiten hinaus. «Ich gebe und gebe – in der Praxis wie daheim.»
Auch Michael Grandjean beschreibt seinen Zustand als «Unzufriedenheit, die erschöpft». Seit der Geburt von Théo sei das Leben durchgetaktet, ständig mangle es an Zeit. Selbst wenn er einige Stunden frei habe, bleibe er manchmal lethargisch. «Früher war ich viel häufiger im Keller und habe gebastelt, Musik gemacht oder etwas programmiert.»
Kinder kosten nicht nur Geld. Sondern auch Zeit. Durch entgangenes Einkommen und durch kinderbedingte Haus- und Familienarbeit.
Die unbezahlte Betreuungsarbeit hat einen gesellschaftlichen Nutzen. Müsste diese durch Betreuung zu Marktlöhnen kompensiert werden – es würde teuer. Für die ganze Gesellschaft.
Bei Müttern läge der Betrag, so eine Studie, zwischen 2100 und 4800 Franken pro Monat. Bei den Vätern zwischen 1300 und 1700 Franken.
Das Bundesamt für Statistik rechnet hier mit einem durchschnittlichen Marktlohn von 32 Franken 60 Rappen pro Stunde. Der Betrag variiert je nach Haushaltskonstellation.
Dazu kommt der Mental Load, die dauerhafte mentale Überlastung, weil Alltagsaufgaben organisiert werden müssen. Es ist ein oft diskutiertes Thema bei den Grandjeans.
Viel bleibe an ihr hängen. Sagt sie.
Er stimmt zu.
Er: «Ich akzeptiere die Aussage, dass du mehr machst, Renée. Aber: Du könntest dich etwas entspannen diesbezüglich.»
Sie: «Eben nicht: Mental Load ist Verantwortung übernehmen.»
Er: «Ich glaube, ich übernehme viel Verantwortung für Théo. Zugegeben, vielleicht muss ich mal im Pyjama mit ihm zu einem Arzt-Termin rennen. Das würde weder ihm noch mir schaden».
Sie: «Klar würde Théo überleben. Und mehr Chaos ist nicht zwingend schlecht. Kurzfristig. Mittel- und langfristig aber braucht es mich, damit wir mehr als überleben. Das Kind genügend Saison-gerechte Kleider hat. Die Schwiegereltern ihr Geburtstagsgeschenk pünktlich bekommen. Und so weiter. An all das denken zu müssen, macht mich hässig. Und müde.»
Er: «Du bist halt ein Kontroll-Freak …»
Sie: «Ich organisiere halt schnell und gut. Wenn wir in die Ferien gehen, habe ich meinen und des Kinds Koffer gepackt, bis du mit deinem fertig bist.»
Théo schläft inzwischen, Renée Grandjean sei Dank. Sind beide Eltern zuhause, ist zum Einschlafen seit zwei Jahren nur Mama genehm.
«Auch hier haben wir die Idee der Gleichstellung ohne des Kinds eigener Wille gemacht», seufzt sie.
Bei einem Glas Rotwein diskutieren Michael und Renée Grandjean, wie sich die politischen Rahmenbedingungen ändern müssten für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Den Stress anspruchsvoller Jobs trotz Kleinkind tun sich die Grandjeans an, weil «das einfach vereinbar sein muss», sagt Michael Grandjean. «Indem wir diese Überzeugung leben, wird es hoffentlich für kommende Generationen einfacher.»
Michael Grandjean wurde befördert, bevor er Vater wurde. «Insofern leidet meine Karriere nicht, auch wenn Weiterbildungen aktuell aus zeitlichen Gründen leider nicht möglich sind.» Sein Glück, wollte und wolle er nicht mehr als einen Papa-Tag. «Unter 80 Prozent wäre mein Job kaum umsetzbar.»
Trotzdem ist für ihn klar: «Es braucht endlich tiefprozentigere Co-Leitungen auch in Führungspositionen.»
«Die Frage, die wir uns alle stellen müssen: Wo wollen wir als Gesellschaft hin?», sagt dazu Professorin Rost.
Und: «Was macht uns glücklich?»
Es sei wünschenswert, dass sich die soziale Norm ändere. Beispielsweise, dass auch die Väter den Job reduzierten und Hausmänner würden, während die Frau Karriere mache.
«Auch müssen wir uns als Gesellschaft Atempausen verschaffen», sagt Rost. «Es muss gesellschaftlich anerkannt werden, auch in herausfordernden Berufen als Frau und Mann 5 Jahre Pause machen zu dürfen – und dann wieder durchstarten zu können.»
«Die nächste Generation wird es hier nicht einfacher haben», sagt Rost. Elternzeit und bessere Kita-Angebote mögen helfen, das Grunddilemma bleibe: «Ich muss entweder im Job Abstriche machen, oder aber ich sehe mein Kind seltener.» Jeder Tag habe nur 24 Stunden.
Auch Renée Grandjean sieht einen Teil ihrer Erschöpfung als hausgemacht. Sie hat deshalb einen Entscheid getroffen, schweren Herzens: «Ich reduziere mein Pensum vorübergehend auf 50 Prozent und nehme keine weiteren Patienten auf.»
Sie sagt: «Hätte ich mit dem aktuellen Wissen und Stresslevel gewusst, wie streng ein Kind ist, ich hätte mich dagegen entschieden.»
Vielleicht lache sie in fünf Jahren über diese Aussage, und würde sie so nie mehr treffen.
Jetzt gelte es, selber wieder zu Kräften zu kommen. Nur wenn es ihr gut gehe, gehe es Théo gut.
Auch der Lohnunterschied macht meiner Meinung nach gar keinen Sinn. Meine Frau hilft Menschen gesund zu bleiben/werden und ich helfe Firmen und ihren Mitarbeitern bei IT Problemen...