Dank EU-Paket: Schweizer Fluggäste könnten 550 Franken bei Verspätung bekommen
Es ist ein fiktives Beispiel, das die Ungleichbehandlung deutlich aufzeigt: Der Schweizer Passagier Hürlimann hat einen Flug von Zürich nach San Francisco gebucht, der deutsche Passagier Schmidt fliegt ab Stuttgart nach Zürich und nimmt dort den gleichen Flug nach San Francisco. Doch der USA-Flug hat mehr als 5 Stunden Verspätung. Beide Passagiere fordern von der Airline eine Entschädigung. EU-Passagier Schmidt erhält 600 Euro, also rund 550 Franken. Schweiz-Passagier Hürlimann: nichts.
Diese Diskrepanz besteht seit vielen Jahren und ist rechtlich abgesegnet – zum Frust vieler Passagiere hierzulande, die für den bezahlten Ticketpreis nicht die damit verbundene Leistung erhalten – einen pünktlichen Flug. Das könnte sich im Falle einer Annahme der neuen EU-Verträge allerdings ändern. Eine Abstimmung darüber ist frühestens 2027 zu erwarten.
Im Bereich der Luftfahrt sei «der Grundsatz der einheitlichen Rechtsauslegung» vorgesehen, sagt Christian Schubert, Sprecher des Bundesamts für Zivilluftfahrt (Bazl), auf Anfrage. Sprich: «Schweizer Passagiere würden den EU-Passagieren im Bereich Passagierrechte gleichgestellt.» Schweizer Gerichte müssten sich «neu vollumfänglich» an die Rechtsauslegung des Europäischen Gerichtshofs halten.
Bundesrat verspricht Entschädigungen
So verspricht es auch der Bundesrat im erläuternden Bericht zum EU-Paket:
Simon Sommer ist denn auch zuversichtlich, dass es einer Verbesserung kommen könnte aus Konsumentensicht. Er ist Jurist und Fluggastrechtsexperte bei der Schweizer Firma Cancelled. Diese hilft Passagieren bei der Durchsetzung ihrer Forderungen gegenüber Airlines im Falle von Flugverspätungen und -absagen. Im Erfolgsfall kassiert Cancelled eine Erfolgsprämie zwischen 30 und 40 Prozent des zugesprochenen Betrags. Firmen wie Airhelp oder Flightright betreiben ein ähnliches Geschäft.
Laut Sommer gilt im Bereich des Luftverkehrs bereits heute ein sogenannter «Quasi‑acquis». Geregelt ist das im bilateralen Luftverkehrsabkommen. Dieses enthält schon heute eine Form der dynamischen Rechtsübernahme, wie sie mit dem neuen EU-Paket auch bei den anderen Verträgen eingeführt werden soll.
Regionales Urteil mit Folgen
Zwar orientierten sich Schweizer Gerichte deshalb an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, sagt Sommer. «Eine verbindliche Wirkung haben dessen Entscheidungen jedoch nicht.» Und genau dies führt in der Schweiz zu abweichenden Auslegungen der Rechtslage.
So können sich Airlines wie Swiss, Edelweiss oder Helvetic in der Schweiz seit 2016 auf ein Urteil des Bezirksgerichts Bülach ZH stützen. Dieses entschied zum Nachteil der Passagiere. Mit der Folge, dass hierzulande bei Verspätungen – so wie im Anfangsbeispiel mit dem San-Francisco-Flug – keine Ausgleichszahlungen fällig werden, sondern nur bei Flugabsagen. Cancelled-Jurist Sommer wagt eine Schätzung:
Anders sieht es aus, wenn bei einer Flugverspätung ein EU-Land tangiert ist. Wenn sich also der Abflugort, der Zielflughafen oder der Sitz der Airline in einem EU-Land befindet. «Je nachdem haben wir dann bis zu drei mögliche Klageorte», sagt Sommer. Dies führe zur bizarren Situation, dass die Swiss in einem EU-Land zur Kasse gebeten werden könne, während dies in der Schweiz nicht möglich ist.
Widerstand von Doris Leuthard
Sommer glaubt, dass eine stärkere institutionelle Anbindung an das EU‑Recht präventiv Einfluss auf die künftige Rechtsprechung in der Schweiz hätte. Zudem ist seit Jahren auf EU-Ebene eine neue Verordnung in Vorbereitung, die die Fluggastrechte aus Schweizer Perspektive weiter stärken könnte. «Kommt diese Reform zustande, müsste die Schweiz sie im Rahmen des bestehenden Luftverkehrsabkommens übernehmen», sagt Sommer.
Politisch genoss das Thema in den vergangenen Jahren beim Bund – trotz vielen Berichten über verärgerte Passagiere – nicht oberste Priorität. Zuletzt wagte 2018 der damalige FDP-Nationalrat Hans-Ulrich Bigler einen Vorstoss. In einer breit abgestützten Motion forderte der heutige SVP-Politiker vom Bundesrat, dass gleiche Fluggastrechte in der Schweiz wie in der EU gelten sollen.
«Diese Ungleichbehandlungen lassen sich nicht rechtfertigen», schrieb Bigler. Die Schweiz sei Vertragspartnerin des Luftverkehrsabkommens, und dieses sehe eine Harmonisierung vor. Aber:
Von der ehemaligen Verkehrsministerin Doris Leuthard gab es damals jedoch keine Unterstützung für Biglers Forderung. Die Motion wurde von der grossen Kammer abgelehnt.
Mehr Anzeigen beim Bund
Vorerst bleibt die Situation für Schweiz-Passagier Hürlimann also unbefriedigend. Das sieht auch die Stiftung für Konsumentenschutz so. Zuletzt sagte deren Rechtsleiterin Livia Kunz gegenüber CH Media:
Den grossen Frust widerspiegelt auch die Anzeige-Statistik des Bazl. Das Amt agiert hierzulande als Durchsetzungsbehörde für die Fluggastrechteverordnung, wenn es zu keiner Einigung zwischen Airline und Passagier kommt. Laut Sprecher Schubert haben die Anzeigen gegenüber Airlines in den letzten Jahren zugenommen – und 2024 mit 7600 Anzeigen ein Rekordhoch erreicht.
Allerdings besteht der Anspruch nur, wenn der Flug in der EU oder in der Schweiz startet – unabhängig von der Airline – oder wenn er in der EU oder der Schweiz landet und von einer in der EU oder in der Schweiz registrierten Airline durchgeführt wird. Kein Anspruch besteht, wenn aussergewöhnliche Umstände wie Unwetter oder Fluglotsenstreiks für die Annullierung verantwortlich sind.
Komplizierter ist die Situation bei Verspätungen: Zwar haben Passagiere aus der Schweiz theoretisch wie EU-Bürger Anspruch auf eine Entschädigung, wenn der Flug über drei Stunden verspätet ist. Bei Airlines aus der EU erhält man die entsprechende Ausgleichszahlung in der Regel problemlos. Doch Airlines mit Sitz in der Schweiz können solche Forderungen oftmals mit Verweis auf frühere, lokale Rechtsurteile erfolgreich ablehnen.
Quelle: cancelled.ch
