Die Frau hat viel Fleisch an den Knochen ihrer Geschichte. Die Frau heisst Nastassja Kinski, Tochter des Klaus Kinski, Schwester von Pola und Nikolai. Aber darüber will Nastassja Kinski nicht reden. Nicht über den Vater, nicht über die Schwester, die vom Vater jahrelang missbraucht und mit Luxusartikeln zum Stillschweigen verpflichtet wurde, nicht über den Bruder, der vor allem als Vater-Imitator Karriere machte. Das kann man verstehen.
Obwohl sie früher darüber reden konnte. 1982 sagte sie bei David Letterman: «Wir waren uns alle ähnlich, meine Mutter, mein Vater, ich.» Der wilde Vater, der wie ein gesetzloser Dämon über die Nachkriegs-Filmlandschaft kam, war ihr Ticket nach Hollywood. Doch wenn der Name des Vaters heute in einem Interview fällt, dann weint Nastassja Kinski los, so gross sind dann die Erschütterung und die Verletzung aller Abmachungen, die sie im Voraus mit den Journalisten getroffen hat. So geschehen zum Beispiel 2013 vor laufender Kamera bei Markus Lanz.
Und deshalb nehmen wir Abstand vom Angebot, ein Interview mit Nastassja Kinski zu führen. Ein Interview, das so vieles nicht hätte berühren dürfen und das vor Erscheinen in allem so rigide kontrolliert worden wäre, dass es am Ende ein fader Spiessrutenlauf aus verzagten Alibifragen geworden wäre.
Dabei ist Nastassja Kinski anbetungswürdig interessant. Mit 12 wurde sie von Wim Wenders für den Film entdeckt. Ein Glück, denn ihre Eltern hatten sich getrennt, die Mutter war unfähig, Geld zu verdienen, Nastassja übernahm die ganze Existenzsicherung der Familie. Mit 16 spielte sie in der «Tatort»-Folge «Reifezeugnis» (1977) die Schülerin Sina, die ihren Lehrer verführt und einen Mitschüler ermordet und war über Nacht die Lieblings-Lolita von ganz Deutschland. Eine astreine Männerfantasie direkt aus den immerfeuchten Bettlaken der 70er-Jahre. Und die Kinski war als Kindfrau gebrandmarkt.
Mit 16 traf sie auch auf Roman Polanski, mit 18 gewann sie einen Golden Globe als Polanskis «Tess», mit 23 heiratete sie zum ersten Mal, mit 30 wurde sie die Partnerin des 28 Jahre älteren, steinreichen Musikproduzenten Quincy Jones (auch er darf in Interviews nicht erwähnt werden, sie bezeichnet ihn als «Rubbish»). Es heisst, sie habe mit jedem ihrer Regisseure geschlafen, es mache die ganze Hingabe und verletzliche Erotik ihrer Performance aus. Doch dies kann gut auch nur eine Lieblingsfantasie männlicher Filmkritiker sein.
Aber wieso ist sie genau in Locarno? Ach ja, weil sie im Remake des Films «Cat People» von Jacques Tourneur, dessen Filme hier in der Retrospektive laufen, die Hauptrolle gespielt hat. Für diesen filmhistorischen Umweg bekommt sie einen Ehrenpreis. Kann man machen. «Cat People» ist ja auch ein grossartiger Stoff: Wenn eine Frau zu viel Lust oder Frust in sich aufsteigen spürt, verwandelt sie sich in einen schwarzen Panther. Punkt. Sehr, sehr toll.
Sacht erinnert diese Verwandlungsrolle an einen ganz anderen Auftritt, den Nastassja Kinski als 16-Jährige in der TV-Show «Am laufenden Band» von Rudi Carrell hatte. Carrell spielte einen Schiffbrüchigen, sie eine Nixe.
Liebe Leute, ihr seht: Ich kapituliere. Genau so wenig, wie es mir möglich ist, ein Interview mit Nastassja Kinski zu führen, dass sich bloss um die Filme von Wim Wenders oder ihre Arbeit mit Polanski dreht, schaffe ich es, hier einen rein seriösen Artikel über sie zu schreiben. Denn das ist das Kreuz mit dieser Schauspielerin, die soviel Genialisches mit auf den Weg bekam und die eine grosse Lady hätte werden können. Quasi ihr Vater minus das Böse.
Allein – sie ist es nicht geworden. Sie hat sich mit Macht von ganz oben in die Schublade der C-Prominenz gestürzt. Hat letztes Jahr in «Let's Dance» mitgemacht und ist eine – angeblich wahrhaftige, aber dafür doch erstaunlich kurze – Liaison mit einem Tänzer eingegangen. Hat sich 2017 im letzten Moment entschieden, nicht ins «Dschungelcamp» zu gehen. Dorthin, wo sich die Promis von der Resterampe des Lebens begeben. Kader Loth wurde ihr Ersatz.
Es ist der frei gewählte Fall. Die Selbstzerreibung einer Existenz zwischen Familientrauma, Arthouse-Diva und Reality-Celebrity. Aber auch schillernd in seiner abstrusen Unentschiedenheit. Eine Frau auf allen widersprüchlichen Bühnen des Showbiz. Aus Verzweiflung? Braucht sie Geld?
Oder hält sie, die als Kind in die reinste Anarchie hinein geboren wurde, sich selbst an keinerlei Beschränkungen? Im Gegensatz zu denen, die sie ihren Interviewpartnern auferlegt? Ist sie etwa das personifizierte postmoderne Manifest? Es wäre sehr interessant geworden, mit ihr darüber zu reden. Vielleicht gelingt dies jemandem, dessen diplomatisches Geschick grösser ist als meines. I apologize.
Update, 5. September 2017
Nastassja Kinski legt in einem Schreiben an die Redaktion Wert auf die folgende Feststellung:
watson hält an seiner Darstellung fest.