Ein knappes Kopfnicken im Treppenhaus, ein gemurmeltes «Hallo» vor der Waschküche: Viel tiefer gehen Nachbarschaftsbeziehungen in städtischen Quartieren oftmals nicht. Die Organisatoren des Projekts «Hansbank in allen Gassen» wollen das ändern: Ihr erklärtes Ziel ist es, Zürich am nächsten Samstag ins «grösste Wohnzimmer der Schweiz» zu verwandeln.
Die Idee: Anwohner stellen in ihren Quartieren Sitzbänke auf und tragen den Standort online auf einer Karte ein. So sollen «Räume für Begegnungen» geschaffen werden, in denen sich Nachbarn auf einen Schwatz, eine Tasse Kaffee oder zum gemeinsamen Grillieren treffen können. Wer noch keine Sitzbank hat, kann sich an einem gemeinsamen Baufest auf dem Werdmühleplatz selber eine zimmern.
Hinter dem Projekt stecken die Organisationen Res Publik und Stadtstattstrand, die sich als «Fabriken für Öffentlichkeit» verstehen. Mitorganisator Andreas Rupf sagt: «Städte werden immer dichter, die Leute ziehen öfter um und die Beziehungen zu den Nachbarn werden anonymer.» Die Gentrifizierung beschleunige die Entwicklung zusätzlich noch.
«Wir wollen dem entgegenwirken, weil wir den Eindruck haben, dass sich viele Leute in der Grossstadt manchmal einsam fühlen und gern mehr soziale Kontakte pflegen würden.» Das Projekt soll auch dafür sorgen, dass die Menschen aus der eigenen «Bubble» ausbrechen und sich mit Andersdenkenden abgeben. «Der öffentliche Raum hat dafür viel Potenzial», so Rupf.
Er ist überzeugt, dass es nicht nur dem Einzelnen nützt, wenn er sich mit seinem Quartier identifizieren kann. «Insgesamt geht man in einer Gesellschaft verantwortungsbewusster miteinander um, wenn man nicht in totaler Anonymität lebt.» Vandalismus etwa werde in anonymen Quartieren eher toleriert als in gut vernetzten Nachbarschaften, argumentiert er.
Die Sitzbank-Aktion ist nicht das einzige Projekt, das darauf abzielt, Grossstädter aus der Anonymität zu holen. Der Berner Politikprofessor Markus Freitag, der zum sozialen Zusammenhalt in der Schweiz forscht, stellt bereits seit einigen Jahren Bemühungen fest, den Gemeinsinn in den Städten zu stärken. «Ausdruck davon ist etwa der Wunsch nach selbstverwalteten Genossenschafts-Siedlungen wie jener in der Zürcher Kalkbreite», so Freitag.
Auch verschiedene Apps – von solchen, die Kontakte zwischen Nachbarn herstellen sollen, bis hin zu Urban-Gardening-Initiativen – zielten auf ein stärkeres Miteinander ab. Freitag ortet den Grund dafür einerseits in den neuen technologischen Möglichkeiten. Andererseits aber auch darin, «dass dem Wert sozialer Beziehungen als soziales Kapital» mehr Bedeutung beigemessen werde. Dies vor allem in urbanen Gebieten, wo der Austausch oft von Familien getragen werde.
«Aktionen wie das Sitzbank-Projekt entsprechen dem Zeitgeist», so Freitag. Das Ganze sei relativ unverbindlich, flexibel einsetzbar und ohne grossen Aufwand vom Einzelnen umzusetzen. In der Summe könnten solche Projekte dennoch eine nachhaltige Wirkung entfalten.
Während die Städter der Anonymität mit derlei Aktionen immer wieder einmal entfliehen möchten, stellt Freitag in ländlichen Gegenden gerade den umgekehrten Effekt fest: Das «spontane und formlose Miteinander» leide in Dörfern zunehmend, so der Politologe.
Gründe lägen etwa in der Schliessung von Begegnungsstätten wie Post- und Bahnschaltern oder Einkaufsläden, aber auch in der zunehmenden Mobilität der Menschen und der geringeren Vielfalt an Angeboten wie dem Sitzbank-Projekt. Und schliesslich machten die grenzenlosen Möglichkeiten des Internets der dörflichen Geselligkeit zusätzlich zu schaffen.
Doch auch Städter, die Anonymität schätzen, haben laut Freitag nichts zu befürchten: «So weit, dass soziale Beziehungen zu den Nachbarn ein Muss werden, wird es in urbanen Zentren nicht kommen.» Allein die Grösse und die Vielfalt der Stadt verhindere das dörfliche Gesetz des Wiedersehens. «Gelebt wird in der Stadt vielmehr das um Aufmerksamkeit buhlende Gesetz des Gesehenwerdens.»