Am Tag nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels loben die Kommentatoren der Schweizer Zeitungen die hiesigen Ingenieursleistungen und die direkte Demokratie. Gleichzeitig nehmen sie die Nachbarländer Italien und Deutschland in die Pflicht.
«Der neue Gotthardtunnel ist nicht nur eine Meisterleistung schweizerischer Präzisions- und Ingenieurskunst. Er ist auch ein direktdemokratisches Meisterstück, Ausdruck von Innovationsfreude der Bürgerinnen und Bürger», schreibt die «Neue Luzerner Zeitung» in ihrem Kommentar am Donnerstag. Doch die viel gepriesene Leistungsfähigkeit der NEAT bleibe Theorie, bis die Zufahrten aus Norden und Süden ausgebaut sind. «Da wartet noch viel Arbeit auf Bundesrat und Diplomaten.»
Auch die «Berner Zeitung» kommentiert:
Die «Nordwestschweiz» richtet den Fokus weiter auf die EU: «Die Schweiz hat den neuen Tunnel gestern mit viel Selbstbewusstsein eröffnet. Mit demselben Selbstbewusstsein sollte sie nun auch ihre Interessen gegenüber Europa wahrnehmen – wenn es um die Zufahrtsstrecken zum neuen Tunnel geht, aber auch wenn es um unsere bilateralen Beziehungen und um die Regeln der Zuwanderung geht.»
«Politisch», schreibt das «St. Galler Tagblatt», «ist dieser Tunnel ein Zeuge aus einer anderen Zeit, (...) als die Integration dieses Landes in ein europäisches Projekt politisch möglich und vielen erstrebenswert erschien.» (...) «Und es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich ausgerechnet jetzt, da das Bauwerk seinen Nutzen entfalten kann, die Frage nach dem Verhältnis zur EU in neuer Schärfe stellt. Immerhin: Wer 57 Kilometer Fels durchbohren kann, der sollte auch hierauf eine Antwort finden.»
Skeptischer klingt der Kommentar in der «Südostschweiz»: «Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt nach wie vor zu häufig auf der Strasse. (...) Die Neat – gestern feierlich eröffnet, frenetisch gefeiert im In- und Ausland – könnte den nötigen Schub liefern. (...) Den Tatbeweis wird die Neat allerdings nie antreten können – zu gewichtig ist die Schweizer Strassenlobby. Kaum sind die Bagger am Gotthard abgezogen, fahren sie nämlich wieder auf: für einen zweiten Strassentunnel.»
Das verbindende Element des Tunnel-Baus heben die Westschweizer Zeitungen «Le nouvelliste», «L'Express» und «L'Impartial» hervor: Er eröffne der EU eine Achse für effizienten Warentransit zwischen Rotterdam und Genua und dürfte dabei helfen, den Graben zuzuschütten, der die Annahme der Masseineinwanderungsinitiative aufgerissen habe.
Die Stärken und Schwächen der Schweiz kristallisiert die «Basler Zeitung» heraus:
Auch einen Vergleich mit dem nördlichen Nachbarn zog das Blatt: «Die Schweizer Tugenden sind auch die deutschen: Organisation, Pünktlichkeit, Erfindungsgeist. (...) Auch diese Feier wird zu Ende gehen und die nächste Steuer-CD kommt bestimmt.»
Ein Loblied stimmte der «Blick» an: «Unsere Ingenieure haben mit der Flachbahn die Ideallinie gefunden. Geradliniger gehts nicht mehr durch den Berg. Die Mission ist erfüllt. Wir teilen dieses intime Glück der Tunneleröffnung mit ganz Europa. (...) Aber klar ist es schwierig, unsere Emotionen für ein Loch, das während 57 Kilometern gleich aussieht, rational zu erklären. Eigentlich geht das nicht, man muss es spüren.»
Und auch der Kommentator in «Bund» und «Tages-Anzeigers»: «All die Worte über den ‹historischen Tag›, das ‹Jahrhundertbauwerk› und den ‹Stolz› nutzen sich in der Wiederholung etwas ab. Aber sie bleiben wahr: Das war ein grosser Tag für die Schweiz.»
Nach dem Bau, so fordert der Kommentar in der «Tribune de Genève», müsse die Schweiz nun in «Graue Substanz» investieren. Jetzt, da die Infrastruktur bereitstehe, könne das Land mit ambitiösen Programmen in Wissenschaft, Forschung und Entwicklung glänzen. (egg/sda)