Mit einem unsicheren Lächeln betritt Marina* das Restaurant. Die Mundwinkel zucken. Dass auch ihr gesamter Körper zittert, wird erst ersichtlich, als sie ihre Jacke auszieht und über die Stuhllehne legt.
«Das Trauma sitzt noch tief», sagt sie. Setzt sich. Atmet tief ein. Versucht, sich zu beruhigen. Mit Erfolg. «Ich werde wohl noch viele Therapiestunden brauchen.» Vielleicht werde sie aber auch nie wieder die Marina von vor fünf Jahren sein können. Die Marina, die keinen Stalker hatte.
Marina war 38 Jahre alt, als sie 2018 Lukas* kennenlernte und seinem Charme erlag. Nach sechs Monaten zogen die beiden zusammen. Doch dann verlor Lukas seine Stelle. Und ein ganz anderer Mensch kam zum Vorschein.
Lukas liess seine Unzufriedenheit zunehmend an Marina aus. Für alles machte er sie verantwortlich: dass er keinen Job fand, dass er schlechte Laune hatte, dass er sich einsam fühlte.
Marina tat alles, um ihn zufriedenzustellen. Sie bezahlte Wohnung und Einkäufe, sie kochte, putzte, schrieb seine Bewerbungen, sagte Treffen mit ihren Freunden ab. Sie habe für ihn da sein wollen. Weil sie selbst wisse, wie schlimm es sich anfühle, in schweren Zeiten im Stich gelassen zu werden. «Das hat er gewusst und ausgenutzt.»
Sie habe gespürt, dass es falsch war, wie Lukas sie behandelte. Und doch:
Lukas habe die Gabe, Geschichten so zu drehen, dass er immer als Opfer dastehe.
Nach zweieinhalb Jahren Beziehung erkannte sich Marina selbst nicht mehr wieder. Ihr Umfeld war weg, ihr Konto leer, ihre Energie aufgebraucht. Also zog sie die Reissleine. Machte Schluss.
Doch damit nahm ihr Leid unter Lukas kein Ende. Es fing erst richtig an.
Marina zog ins Nachbarhaus gegenüber – ein grosser Fehler, wie sie heute sagt. Doch sie wollte ein Auge auf Lukas’ 10-jährige Tochter haben, die sie ins Herz geschlossen hatte.
Nicht nur konnte Marina ihre Wohnung nicht verlassen, ohne dass Lukas es mitbekam. Von seinem Balkon aus konnte er auch direkt in ihre Wohnung sehen. Ausserdem teilten sich ihre Wohnblocks eine Waschküche.
Als das erste Mal eine Freundin bei ihr übernachtete, rastete Lukas aus. Er nahm ein Beil und zertrümmerte die Möbel, die Marina wegen ihres Umzugs noch in der Garage lagerte. Danach lief er eine Stunde lang durch das Quartier und beschimpfte Marina als Schlampe. «Ab dann hatte er jeden Monat ein bis zwei solche Anfälle.»
Lukas begann, nachts Sturm zu läuten und Marinas Kleidung in der Waschküche zu kontrollieren. Das liess er sie mit SMS und Mails wie die folgende wissen:
Wenn er wusste, dass Marina aus dem Haus war, behauptete er, er befände sich in ihrer Wohnung und würde nun Überwachungskameras installieren – schliesslich habe er noch einen Schlüssel. Dazu schrieb er Dinge wie:
Fast zwanghaft begann Marina daraufhin, ihre Schlüssel durchzuzählen. Immer und immer wieder. Auch ihre Wohnung suchte sie mehrmals nach Kameras ab. Obwohl sie wusste, dass Lukas log.
Ein anderes Mal, als Marina aus der Dusche trat, stand Lukas auf seinem Balkon, Handykamera auf sie gerichtet und rief: «Schade, deine Fans hätten gerne noch mehr gesehen.»
Marina sagt:
Und letzten Endes habe sie sich auch wertlos gefühlt. Tränen steigen ihr in die Augen. Aber sie beherrscht sich. Sie ist mit ihrer Aufzählung noch lange nicht fertig.
Lukas rief auch Marinas Freundinnen und Bekannte an. Eine nach der anderen. Erzählte ihnen erlogene Geschichten. In Facebook-Posts machte er Marinas tiefste Geheimnisse publik. Etwa, dass sie einst vergewaltigt worden ist.
«Er nahm die Dinge, die ich ihm im Vertrauen erzählt hatte, und nutzte sie gegen mich. Schmückte die Geschichten aus, übertrieb, dichtete Dinge dazu, sodass ich als schrecklicher Mensch dastand.» Bei diesen Worten kann Marina ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Ungehindert laufen sie über ihre Wangen. Ihr Körper fängt wieder an zu zittern.
«Meine eigenen Freunde haben ihm die Lügengeschichten über mich geglaubt», sagt Marina. Sie habe sich so einsam und hilflos gefühlt.
Im Herbst 2022 wandte sich Marina erstmals an die Polizei – vergeblich. Der Polizist habe sie nicht ernst genommen. Nachdem sie gegangen war, habe er Lukas angerufen und ihn gefragt, ob es wirklich nötig sei, dass sich die Polizei in diesen «Beziehungskonflikt» einschalte. «Er hat es natürlich geschafft, den Polizisten zu überzeugen, dass ich diejenige bin, die spinnt.»
Nach dem Anruf des Polizisten wurden Lukas’ Attacken noch schlimmer. Mit Mails und Briefen verleumdete er Marina nun auch bei ihrem Arbeitgeber. Marina bunkerte sich daraufhin in ihrer Wohnung ein. Die Rollläden blieben durchgehend unten. Die Wäsche wusch sie im Lavabo. Freunde traf sie keine mehr. Zum Einkaufen ging sie nur noch mit hochgezogenem Kapuzenpullover.
Dass das, was sie erlebte, Stalking genannt wird, wusste Marina damals nicht. Sie erfuhr es erst, als sie sich an die kantonale Opferhilfe wandte. Diese riet Marina, Lukas’ Aktionen zu dokumentieren und nicht darauf zu reagieren. Weiter half man ihr, eine neue Wohnung zu finden.
Drei Monate lang sammelte Marina Beweise. Vor allem in Form von E-Mails, die Lukas von wechselnden Adressen sandte. Dann, Anfang 2023, ging sie mit einem ganzen Stapel Papier zur Polizei und erstattete Anzeige.
Diesmal nahm die Polizei Marina ernst. Noch am selben Tag durchsuchte sie Lukas’ Wohnung und beschlagnahmte seine elektronischen Geräte. Im Anschluss verhängte die Polizei ein dreimonatiges Kontakt- und Rayonverbot.
Ausserdem erhielt Marina auf der Polizeistation einen wichtigen Tipp: Sie solle alle juristischen Schritte unter der Adresse der Opferhilfe unternehmen, damit Lukas ihren neuen Wohnort nicht erfahre.
Im Sommer 2023 verurteilte das Gericht Lukas wegen Nötigung zu einer Busse von 2400 Franken plus 1000 Franken Gerichtskosten. Ausserdem sprach es ein Kontakt- und Rayonverbot von zwei Jahren aus.
Endlich Ruhe, endlich in Sicherheit, dachte Marina. Aber falsch gedacht. Den Strafbehörden war im Verlauf des Prozesses ein gravierender Fehler unterlaufen: Sie sandten Lukas in einem Dokument Marinas neue Adresse zu. «Wie kann so etwas nur passieren? Wissen sie denn inzwischen nicht, was das für mich bedeutet? Weltuntergang!», ruft Marina.
Seit diesem Zeitpunkt lebt Marina wieder in Angst. Im Juni läuft Lukas’ Kontakt- und Rayonverbot aus. Was dann passiert, weiss niemand. Wieder fühlt sich Marina ausgeliefert.
Zwar kann sie erneut ein Kontakt- und Rayonverbot erwirken lassen, sobald sich Lukas wieder bei ihr meldet. Doch dieser Prozess kostet Zeit, Energie und Geld. Ressourcen, die Marina lieber in ihre Therapie investieren würde. «Warum muss ich diesen Aufwand betreiben? Warum muss ich als Opfer das bezahlen? Warum liefern mich die Behörden praktisch meinem Stalker aus?»
Marina ist wütend. Aber vor allem ist sie erschöpft. Sie will endlich zur Ruhe kommen:
Adressen-Leaks durch Strafbehörden können vorkommen, weiss Andrea Gisler. Sie ist Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und hat als Rechtsanwältin schon einige Stalking-Opfer vertreten. Gisler sagt: «Für die Opfer können solche Fehler lebensbedrohlich sein.»
Bei den meisten Stalking-Opfern handelt es sich um Frauen. Und die meisten Stalker sind deren Ex-Partner. Für Gisler ist deshalb klar, dass Stalking dasselbe gesellschaftliche Problem zugrunde liegt wie bei häuslicher Gewalt:
Marinas Geschichte ist ein typischer und dennoch besonders schwerer Fall von Stalking, so Gislers Einschätzung. Bezeichnend sei auch die milde Strafe, die ihr Stalker erhalten habe. Derzeit können die Schweizer Gerichte nur einzelne Straftaten verurteilen. Beispielsweise Drohung oder Nötigung. Mildere Formen von Stalking können daher nicht geahndet werden.
An der Haustür klingeln, Nachrichten schreiben, an der Bushaltestelle des Opfers warten, all diese Handlungen seien grundsätzlich erlaubt, so Gisler. «Erst die Masse, Intensität und Gesamtheit von solchen Handlungen machen sie zu Stalking.» Dem werde unser Rechtssystem nicht gerecht.
Frühestens 2026 soll sich das aber ändern. Bundesrat und Parlament haben sich kürzlich dafür ausgesprochen, einen eigenen Straftatbestand für Stalking ins Strafgesetzbuch einzuführen. Wie dieser genau umgesetzt wird, darüber diskutiert jetzt die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen.
Viele Fragen sind noch offen. Etwa, ob Stalking ein Offizialdelikt werden soll. Also ein Delikt, das die Staatsanwaltschaft so oder so verfolgt, unabhängig davon, ob das Opfer juristisch gegen den Täter vorgeht. Gisler spricht sich dafür aus. Denn es zeige sich schon jetzt, dass Stalking-Opfer sich häufig nicht trauen, gegen ihre Ex-Partner vorzugehen und unter grossem Druck stehen:
Derzeit ist geplant, dass Stalkerinnen und Stalker künftig mit einer Geldstrafe und bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden können. Gisler bezweifelt, dass dieses Strafmass dem Leid der Opfer in schweren Fällen von Stalking gerecht wird und Täter genügend abschreckt. Auch, weil Gerichte selten die Maximalstrafe verhängen. «Ihre Strafen befinden sich meistens im unteren Drittel des Strafrahmens.»
Eines wird klar: Der Straftatbestand wird nicht alle Probleme, die durch Stalking entstehen, lösen können. Marina hätte sich etwa gewünscht, dass das Gericht Lukas zu einer psychologischen Behandlung, einem Täterkurs oder sonstigen Lernprogrammen verpflichtet. All diese Dinge wären heute schon möglich. Doch dafür bräuchte es den Willen der Kantone, in Präventionsangebote für Täter und Gewaltschutzgesetze zu investieren, so Gisler. Dieser Wille sei noch nicht in allen Kantonen da.
Marina ist dankbar für die kompetente Opferhilfe ihres Kantons. Und sie wertet die geplante Stalking-Bestimmung im Strafgesetzbuch als ein positives Zeichen, dass die Politik Stalking-Opfer nicht alleine lässt.
Daraus schöpft Marina Kraft. Kraft, um ihre Geschichte zu erzählen. Und um anderen Opfern zu sagen: «Schämt euch nicht. Holt euch Hilfe. Wehrt euch. Und gebt nicht euch selbst die Schuld. Was ihr durchmacht, hat niemand verdient.»
*Namen zum Schutz der Betroffenen geändert
2‘400.- sind ein Hohn! Und warum muss erst immer so viel passieren, bis etwas geschieht? Bis man ernst genommen wird? Warum schöpfen die Richter das Strafmass nicht aus?
Boa solch ein Aufreger am Morgen.