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Das Schicksal illegal adoptierter Kinder – nicht immer gaben die Mütter sie freiwillig her

Das Schicksal illegal adoptierter Kinder – nicht immer gaben die Mütter sie freiwillig her

In den 70er- und 80er-Jahren adoptierten Hunderte von Schweizer Paaren Kinder aus dem Ausland. Nun sind die Adoptierten erwachsen und suchen nach ihren leiblichen Eltern. Nicht selten stossen sie auf Ungereimtheiten.
28.07.2018, 12:34
Annika Bangerter / Schweiz am Wochenende
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Olivia Tanner ist 34 Jahre alt, als sie Verdacht schöpft. Ein Verdacht, den sie auf den Anfang ihres Lebensweges zurückwirft. Einer, der sie durchschüttelt, hadern und ihre Identität infrage stellen lässt. Hat ihre leibliche Mutter sie nicht freiwillig zur Adoption freigegeben?

Es ist ein schwül-heisser Sommerabend. Olivia Tanner sitzt am Küchentisch in ihrer Wohnung nahe Zürich, schiebt das Wasserglas zur Seite und breitet Dokumente vor sich aus. Singhalesische Schriftzeichen, verbleichte Papierblätter. Sie sollen ihre Herkunft erklären. Doch statt Antworten hat Olivia Tanner weitere Fragen gefunden. Die heute 37-Jährige schlägt den Pass auf, den sie als Kind in Sri Lanka bekommen hat, legt ihn neben die Geburts- und Adoptionsurkunde. In den Unterlagen sind zwei unterschiedliche Orte angegeben, an denen sie zur Welt gekommen sein soll. Was stimmt, Colombo oder Ratnapura?

Olivia Tanner stellt Nachforschungen an, reist nach Sri Lanka. Im Spital, auf dem Einwohneramt bekommt sie dieselbe Antwort: nicht registriert. Sie klappert den früheren Wohnort und den Geburtsort der Mutter ab. Nichts. «Es scheint, als ob diese Frau unter diesen Angaben nicht existiert hat.» Eine Frau, die gemäss den Dokumenten ihre leibliche Mutter sein soll. Sie, die Olivia Tanner unbedingt finden will. Und dabei stets in Sackgassen gelandet ist. «Ich muss mich damit wohl abfinden. Aber manchmal ist die Ungewissheit schier unerträglich.» Viele Fragen bleiben offen: Lebt die Mutter noch? Gibt es Geschwister? Und: Was ist damals passiert?

Wie viele Menschen in der Schweiz leben, die als Kinder mit gefälschten Pässen oder unter falschen Angaben adoptiert wurden, ist unklar. Ebenso, in welchen Ländern Vermittler mit illegalen Methoden operiert haben. Die Aufmerksamkeit richtet sich nach Sri Lanka, seit im vergangenen Jahr ein holländisches Fernsehteam einen weitreichenden Adoptionsbetrug der 80er-Jahre aufgedeckt hat. Die TV-Reportage berichtet von Baby-Handel. Von gestohlenen Neugeborenen. Von Müttern, die genötigt wurden, ihre Kleinkinder abzugeben. Die SRF-Rundschau zeigte in der Folge auf, dass auch in der Schweiz umstrittene Adoptionsvermittlerinnen tätig waren.

Olivia Tanner hat über eine DNA-Datenbank eine Cousine gefunden. Ebenfalls aus Sri Lanka adoptiert, ebenfalls in der Schweiz aufgewachsen. Diesen Februar haben die zwei Frauen den Verein «Back to the Roots» gegründet, der sich für die politische Aufarbeitung der damaligen Adoptionspraxis einsetzt.

Ihre Fragen beschäftigen inzwischen auch den Bund. Er muss im Auftrag des Parlaments die damalige Schweizer Adoptionspraxis untersuchen. Aktuell eine Blackbox. Eine zentrale Stelle in Bern gibt es erst seit 2003, als Folge des Den Haager Abkommens. «Wie die Adoptionsverfahren damals von welchen Behörden genau abgewickelt worden waren, wissen wir noch nicht», sagt Joëlle Schickel-Küng vom Bundesamt für Justiz.

Doch weshalb fielen auch den Botschaften oder Einreisebehörden die offensichtlichen Widersprüche in Dokumenten von Kleinkindern nicht auf? «Diese Frage stellt sich uns auch. Sie sind Teil der Untersuchung», sagt Schickel.

Als die Mutter das Kind abholen will, ist es weg

Die Nachforschungen gehen primär den Adoptionen aus Sri Lanka nach. Allerdings stossen auch Herkunftssuchende aus anderen Ländern auf falsche Angaben und Lügen. Das weiss Dida Guigan. Sie kommt während des Bürgerkrieges im Libanon zur Welt und wird kurz nach ihrer Geburt von einem Schweizer Paar adoptiert. Ihre leibliche Mutter findet Dida Guigan nach einer zehnjährigen Suche. Und erfährt: Ihre Herkunft basiert auf Gewalt und falschen Versprechungen. Als Ärzte nach der Geburt im Spital feststellen, dass das Kind keinen offiziellen Vater hat, setzen sie die junge Mutter unter Druck. Sie soll das Kind weggeben. «Darauf liess sich meine Mutter nicht ein. Hingegen auf das Angebot, mich kurzzeitig in der Obhut des Spitals zu lassen», sagt Dida Guigan. Doch als die Mutter ihr Kind abholen will, ist es weg.

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Video: srf/SDA SRF

Heute berät Dida Guigan mit ihrer Organisation «Born in Lebanon» Adoptierte bei ihrer Herkunftssuche. Ehrenamtlich. In den vergangenen fünf Jahren meldeten sich gegen 500 Personen bei ihr. Zu viel, um alle begleiten zu können. Genug um zu wissen: «Nicht alle Dokumente, die legal aussehen, sind es.» Mehrfach hätten sich diese als täuschend echte Fälschungen entpuppt.

Deshalb hat der Verein «Born in Lebanon» gemeinsam mit anderen Betroffenen, unter anderem auch von «Back to the Roots», Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Mai einen Brief geschrieben. Darin fordern sie, sämtliche illegale Adoptionen in der Schweiz aufzuarbeiten und diese offiziell anzuerkennen. «Wer seine leiblichen Eltern sucht, braucht professionelle rechtliche und psychologische Unterstützung», sagt Dida Guigan. Für die heute Suchenden sind die Kantone zuständig. Dort würde aber oftmals «spezifisches Wissen und Kompetenzen fehlen», sagt sie. Zudem fehle es an Angeboten für Adoptiveltern. «Vielen von ihnen geht es nicht gut. Sie hatten von einer perfekten Familie geträumt und waren mit den Kindern und deren spezifischen Bedürfnissen überfordert. Auch Adoptiveltern brauchen Hilfe.» Etwas, was die Eltern von Dida Guigan in Anspruch nahmen, als sie von den Hintergründen ihrer Adoption erfuhren.

Mit kritischen Fragen sind gegenwärtig auch Adoptiveltern von Kindern aus Sri Lanka konfrontiert. Olivia Tanner sagt, die Erfahrungen mit anderen Betroffenen zeigten: Die Mehrheit der Eltern reagiert mit «bei dir ist alles korrekt abgelaufen». Nur ein kleiner Teil der Eltern würde sich eingestehen, «nicht ganz so genau hingeschaut zu haben». «Treffen Adoptierte auf ein Unverständnis seitens der Eltern, ist das äusserst schwierig für sie», sagt Olivia Tanner. Etwas, was an der Urangst von Adoptierten rühren würde. Gerade diese Angst sei aber für viele eine Hürde, die sie an der Suche hindere. Auch bei ihr. Monatelang hat sie mit sich gerungen, bis sie ihren Eltern gegenüber den Wunsch aussprechen konnte, die leibliche Mutter zu finden. «Meine Verlustangst war enorm. Dies als Folge des Traumas, als Tochter schon einmal nicht genügt zu haben», sagt Olivia Tanner. Ihre Ängste waren unbegründet, die Adoptiveltern unterstützten sie.

Dida Guigan und Olivia Tanner sind in fürsorgliche Elternhäuser gekommen. Welches Ausmass eine ungenaue Prüfung der Adoptiveltern aber annehmen kann, zeigt der Fall von Nina aus Bolivien. Wie alt sie genau ist, weiss sie nicht. In ihren Unterlagen tauchen drei unterschiedliche Geburtsdaten auf. Bereits in der Schweizer Korrespondenz fänden sich Unstimmigkeiten, sagt sie. Sie weiss einzig, dass sie 1979 im Alter von etwa fünf Jahren von einem Schweizer Ehepaar adoptiert wurde.

Aus einem Kinderheim in La Paz kam sie in eine Berner Villa – und in ein Martyrium. «Die Frau» – wie Nina ihre Adoptivmutter nennt – habe kein Kind, sondern eine Dienstmagd gewollt. «Ihre beiden leiblichen Kinder hat sie auf ein Podest gestellt. Ich musste neben der Schule den Haushalt schmeissen», sagt sie. Erfüllte sie dabei die Zeitvorgaben nicht, wurde sie verprügelt, bekam kein Essen. Über ihre Heimat Bolivien schimpfte die Adoptivmutter, das dortige Volk verspottete sie als «Drogensüchtige».

Nina sitzt auf einer Parkbank in Bern. Sie erzählt ihre Geschichte gefasst. Als Erwachsene habe sie eine mehrjährige Therapie gerettet. Und als Kind? «Meine leibliche Mami. Immer wenn ich ans Bett gefesselt wurde, hörte ich ihre Stimme, wie sie mir Lieder vorsang.»

Einzige Erinnerung: die grünen Bodenplatten

Die leibliche Mutter zu finden, sei für sie praktisch unmöglich, sagt Nina. Bei ihrer ersten Reise nach Bolivien erfuhr sie, dass sie dort 1984 für tot erklärt wurde. Weshalb, weiss sie nicht. Ebenso fehlen jegliche Anhaltspunkte zu ihren ersten fünf Lebensjahren. Das Kinderheim, in dem sie von den Adoptiveltern abgeholt wurde, fand sie nur mit viel Glück. Mit der einzig aktiven Erinnerung an grüne Bodenplatten klapperte sie in La Paz Kinderheime ab – und fand diese. Als sie in den Gängen, in den Räumen stand, blitzten weitere Bilder aus der Vergangenheit auf. Darüber hinaus konnte sie nichts in Erfahrung bringen.

Um sich mit anderen international Adoptierten auszutauschen, hat Nina erstmals vor zwei Jahren ein Treffen organisiert. 80 Personen nahmen daran teil. Daraus entstand der Verein «Erwachsene Adoptierte» – und Stammtische in verschiedenen Städten.

Ebenso wie Dida Guigan (Born in Lebanon) und Olivia Tanner (Back to the Roots) berichtet Nina von mehr Anfragen, als sie bewältigen kann. Und von der daraus resultierenden Überforderung, wenn am anderen Ende der Leitung die Verzweiflung zu gross ist. Für alle drei ist klar: Es braucht professionelle Anlaufstellen für Betroffene, mehr Psychotherapeuten mit Fachwissen zur Adoption und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung. «Viele Menschen betrachten das Thema noch immer durch eine rosarote Brille. Dass eine frühkindliche Trennung von der Mutter aber eine tiefe Wunde oder eine Traumatisierung auslösen kann, wird häufig ausgeblendet», sagt Olivia Tanner.

Und wie geht es für die drei Frauen weiter? Nina plant ihre Zukunft in Bolivien. Dida Guigan ist nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Libanon in die Schweiz zurückgekehrt und verknüpft in ihrer Musik arabische mit westlichen Klangwelten. Olivia Tanner hofft auf einen Match in der DNA-Datenbank – damit sie zumindest weiss, in welcher Region von Sri Lanka sie Wurzeln schlagen kann.

Kinder von Leihmüttern könnten ähnliche Fragen stellen

Anders als noch in den 70er- und 80er-Jahren sind heute die Zahlen der Adoptionen in der Schweiz tief. Dies, weil die internationalen Kontrollen verschärft und professionalisiert wurden. Die Bedingungen, die für eine Adoption erfüllt sein müssen, sind streng geregelt. Die Adoptionen sanken aber auch, weil ein (unerfüllter) Kinderwunsch inzwischen mit fortpflanzungsmedizinischen Behandlungen angegangen werden kann. Experten schätzen, dass dies ebenso Fragen nach der Herkunft aufwerfen könnte. Etwa bei Kindern von Leihmüttern. Eine Praxis, die zwar in der Schweiz verboten ist, aber nicht international. Und für welche Paare mit Kinderwunsch nicht selten ins Ausland reisen. (aba) (aargauerzeitung.ch)

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