Geliebäugelt hatten sie schon lange damit, heute steht der Entschluss fest: Die Jungen Grünen reichen in verschiedenen Kantonen Nationalratslisten mit ausschliesslich ungültigen Kandidaturen ein. Es sind Minderjährige und Menschen ohne Schweizer Pass, die so zeigen wollen, dass sie auch gerne Teil des politischen Systems der Schweiz wären. Die Listen mit den gültigen Kandidaturen reichen die Jungen Grünen separat ein – sie verspielen sich somit keine Chancen auf die Nationalratssitze.
watson hat mit zwei ungültigen Kandidierenden gesprochen und erfahren, weshalb sie an der Aktion teilgenommen haben. Einer von ihnen ist Cabdirisaak Cabdulkadir. Er ist Vorstandsmitglied der Jungen Grünen, 21 Jahre alt und gelernter Logistiker. Obwohl er seit 20 Jahren in der Schweiz lebt, konnte er aufgrund seiner Ausweise noch keinen Antrag auf eine Einbürgerung stellen – und hat somit keine Chance, für den National- oder Ständerat zu kandidieren.
Er fühlt sich im politischen Prozess exkludiert. Er sagt:
Weiter erklärt er, welche Hürden der Einbürgerungsprozess in der Schweiz habe: «Die Leute sagen mir oft: Lass dich doch einbürgern, dann kannst du wählen und abstimmen. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Das ist ein hochkomplexes Verfahren und man muss viele Kriterien erfüllen. Ich hatte lange den F-Ausweis, das heisst, ich war nur vorläufig aufgenommen. Nun habe den B-Ausweis, also die Aufenthaltsbewilligung, im vergangenen Jahr erhalten. In vier Jahren kann ich den C-Ausweis, also die Niederlassungsbewilligung, beantragen. Erst dann kann ich mir Gedanken darüber machen, ob ich den Schweizer Pass beantragen soll.»
Er hält fest: «Ich finde, man sollte den Menschen, die schon seit zehn oder fünfzehn Jahren in der Schweiz leben und unser Land schliesslich auch unterstützen, sei es wirtschaftlich oder sozial, das Recht geben, sich in die Schweizer Politik einzubringen.»
Dominik Jaggi hat ebenfalls eine ungültige Kandidatur eingereicht. Jaggi besitzt den Schweizer Pass, anders als Cabdulkadir weiss er also, dass ihm das Stimm- und Wahlrecht in drei Jahren – wenn er die Volljährigkeit erreicht – zusteht. Jaggi ist 15 Jahre alt, besucht das Gymnasium und gründet zurzeit mit einer Arbeitsgruppe ein neues Jugendparlament in der Stadt Thun.
Seit rund einem Jahr ist er Mitglied bei den Jungen Grünen, politisiert wurde er aber schon früher: «Die gegenwärtige Klimakrise hat mich zum Nachdenken angeregt, als ich 13 war. Für mich war klar, dass ich irgendetwas dagegen unternehmen muss.»
Für ihn ist klar, dass er mit 18 Jahren Gebrauch von seinen politischen Rechten machen wird, wünscht sich diese aber schon früher:
Insgesamt kandidieren für die Jungen Grünen schweizweit über 200 gültige Kandidaten, zusätzlich gibt es elf ungültige Kandidaturen. Diese elf Kandidatinnen und Kandidaten stünden aber stellvertretend für Millionen Menschen in der Schweiz, so die Jungen Grünen auf Anfrage von watson. Vera Becker, Generalsekretärin der Jungen Grünen, sagt: «Wir forderten schon Stimmrechtsalter 14, 16 oder sogar Stimmrechtsalter 0. Jetzt wollen wir ‹Bürger- und Bürgerinnenrechte für alle› durchsetzen. Wir sind der Meinung, dass alle Menschen, die in der Schweiz leben und hier aufgewachsen sind und sich engagieren, mitbestimmen dürfen.»
Becker ist realistisch und sagt, dass ihnen bewusst sei, dass die Kandidatinnen und Kandidaten keine Chance hätten, gewählt zu werden und die Kandidaturen für ungültig erklärt würden. Aber es sei eine symbolische Aktion. «Schlussendlich kommen wir immer wieder auf dieselbe Frage zurück: Wie kann man ein Zeichen setzen, wenn man nicht stimmberechtigt ist? Da bleibt es halt oft bei der Symbolik», finalisiert Becker.
Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen, hält nicht viel von der Aktion. Er sagt gegenüber watson: «Die Protestaktion der Jungen Grünen ist ein politischer Leerlauf. Die Einbindung in politische Prozesse ist ohne Frage ein wichtiger Beitrag zur Integration. Deshalb können Ausländerinnen und Ausländer bereits heute auf verschiedenen Ebenen einiges bewirken, sei es in Kommissionen, Interessenverbänden oder Vereinen.»
Er fügt an:
Ganz anders sieht das der Juso-Präsident Nicola Siegrist. Er sagt: «Ich begrüsse den Protest, weil die Schweizer Demokratie noch zu viele Menschen von der Mitbestimmung ausschliesst. Die häufig gerühmte Schweizer Demokratie ist nicht vollständig, solange sie einen Viertel der Bevölkerung einfach ausschliesst und vor den Türen der Grosskonzerne Halt macht.»
Auch die Juso fordere ein Ausländerstimmrecht und überdies mehr Demokratie in der Wirtschaft mit Mitbestimmungsrechten für Angestellte und mehr öffentlichen Eigentum bei grossen Konzernen, so Siegrist.
Man kann auch im lokalen Turnverein erst mitreden, wenn man Mitglied ist. Auch wenn man schon 100 Jahre im Dorf wohnt! 🤷♂️