Was das Schweizer Stimmvolk verweigert hatte, ist im Kanton Neuenburg seit kurzem Realität: Seit dem 4. August hat jeder Angestellte im Kanton Anrecht auf einen Mindestlohn von 20 Franken pro Stunde – was übrigens der höchste Mindestlohn der Welt ist.
Von der Lohnerhöhung profitiert etwa die 36-jährige Giannina Blanco. Sie ist eine von 2700 Personen, die bisher für einen Stundenlohn von weniger als 20 Franken schufteten.
Blanco, Spanierin und gelernte kaufmännische Angestellte mit zusätzlichem Bachelor-Abschluss in Psychologie, lebt seit sechs Jahren in La Chaux-de-Fonds. Sie schlägt sich mit zwei Jobs durchs Leben: Neun Stunden pro Woche putzt sie ein Fitnesscenter der Region, zu 50 Prozent verkauft sie Süssigkeiten und Treibstoff an einer Tankstelle.
Es seien harte Jobs, erzählt Blanco in brüchigem Französisch. Doch sie ist froh, dass sie wenigstens irgendwie Geld nach Hause bringen kann – eine Stelle zu finden, sei schwierig gewesen, sagt sie.
Gut bezahlt werden die Arbeiten nicht: 18 Franken pro Stunde erhielt Blanco bisher für das Putzen im Fitnesscenter – neu wird sie dafür mit 20 Franken entschädigt. Mit einem Hundertprozentjob hätte sie damit ganze 360 Franken mehr im Portemonnaie pro Monat. Bei ihrem Arbeitspensum von 36 Stunden pro Monat macht das einen monatlichen Zustupf von 72 Franken.
Für den Tankstellen-Job werden ihr 2100 Franken ausbezahlt, genau 20 Franken pro Stunde wie der Mindestlohn. Hier wird sich für Blanco somit nichts ändern.
Grosse Sprünge kann die Neuenburgerin dank dem neuen Lohnregime nicht machen. «Ich denke noch lange nicht: Hurra, ich bin reich!» Mit dem zusätzlichen Geld hat Blanco vor, einen Korb voller Gemüse und Früchte pro Monat mehr zu kaufen.
Sie kenne jedoch genug Menschen, die bisher mit einem Lohn von 10 oder 15 Franken auskommen mussten. Hier sieht auch Blanco die Vorzüge des neuen Gesetzes: «Für solche Leute öffnen sich mit dem Mindestlohn viele neue Türen.»
Um allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen, sei der Mindestlohn jedoch zu tief angesetzt. Zu hoch sind die Schweizer Lebenskosten laut Blanco. «Ich und mein Mann sind glücklich, wenn wir uns am Monatsende noch etwas Süsses leisten könnten.»
Wenigstens die in der nationalen Volksinitiative angestrebten 22 Franken hätten es sein müssen, so Blanco: «Die Arbeitsbedingungen der Angestellten in der Putz-, Coiffeur-, Tankstellen- und anderen Branchen verschlimmern sich. In solchen Büezer-Jobs wird stetig mehr von den Angestellten gefordert, der Lohn bleibt aber weiterhin tief.»
Blanco hat auch nicht das Gefühl, dass die Wertschätzung ihrer Arbeit durch Vorgesetzte oder die Gesellschaft nun steigen wird. «Um eine solche Veränderung in der Gesellschaft zu erreichen, ist weit mehr als ein knapp berechneter Mindestlohn nötig.» Der Neuenburger Mindestlohn sei deshalb «nur ein Tropfen auf den heissen Stein».